Das Buch zeichnet ein Abriss der Geschichte der Marktwirtschaft und der Theorien über die Marktwirtschaft – von ihren Anfängen bis heute. Der Autor ist ein Anhänger der Marktwirtschaft und zeigt deren Überlegenheit auf. Er lehnt jedoch die „freie Marktwirtschaft“, also den reinen Kapitalismus ab, da dieser zu Ausbeutung, Umweltzerstörung usw. geführt habe. Ebenso lehnt er jedoch den modernen Wohlfahrtsstaat ab, der eine Pervertierung der Marktwirtschaft sei und irgendwann ebenso zusammenbrechen werde wie einst die sozialistische Planwirtschaft.
Was Ludwig Erhard unter sozialer Marktwirtschaft verstanden habe, habe nichts mehr mit dem heute existierenden System der Bundesrepublik zu tun. Bereits in den 60er Jahren habe die verhängnisvolle Entwicklung hin zum Wohlfahrtsstaat begonnen. „Aus der sozialen Marktwirtschaft war etwas grundlegend anderes geworden, als Erhard darunter verstand. Wenn die Bezeichnung der sozialen Marktwirtschaft trotzdem weiter verwendet wurde, so handelte es sich letztlich um einen ‚Etikettenschwindel‘. Ludwig Erhard erklärte bereits 1974 zutiefst enttäuscht, die Epoche der sozialen Marktwirtschaft sei längst beendet, das, was aus seiner sozialen Marktwirtschaft geworden sei, sei von seinen Vorstellungen von Freiheit und Selbstverantwortung weit entfernt.“ (S. 77)
Wittmann zeigt auf, wie insbesondere Großbritannien, das einen ähnlich verhängnisvollen Weg eingeschlagen hatte, in den 80er Jahren durch die konsequenten marktwirtschaftlichen Reformen von Margret Thatcher wieder aus der Krise geführt wurde. Der Spitzensatz der Einkommensteuer wurde von 83 auf 40 Prozent gesenkt, öffentliche Unternehmen wurden privatisiert, die Allmacht der Gewerkschaften gebrochen, der Arbeitsmarkt wurde dereguliert. (S. 98 f.)
Einen ähnlich erfolgreichen Weg beschritt Ronald Reagan in den USA. Er schaffte überflüssige Behörden ab, rationalisierte Dienststellen im öffentlichen Dienst weg, setzte den Rotstift bei den Sozialausgaben an und senkte die Steuern auf einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent. (S. 102 ff.) Die Nachfolger von Thatcher und Reagan, der Labour-Politiker Tony Blair sowie der Demokrat Bill Clinton, setzten deren Politik im Wesentlichen fort.
In den kontinentaleuropäischen Ländern Deutschland, Frankreich und Italien konnte man sich dagegen mit radikalen marktwirtschaftlichen Reformen nicht anfreunden.
Sehr kritisch sieht der Autor die „Exzesse der Finanzindustrie“. So kritisiert er die „entfesselte Liberalisierung“ des Finanzsektors in den USA in den 90er Jahren, insbesondere die „Entfesselung“ des Hypothekenmarktes, die dann die Ursache für die Finanzkrise 2008 geworden sei. Hier bin ich anderer Meinung: Es war nicht die Deregulierung, die die Probleme verursachte hat, sondern ganz im Gegenteil, es war ein „zuviel“ an Regulierung und staatlichen Eingriffen: In der Ära Clinton wurden die Banken verpflichtet, aus Gründen der „Political Correctness“ auch sogenannten „Minderheiten“ Immobilienkredite zu gewähren. Dadurch bekamen nunmehr auch solche Personengruppen Kredite, die eine schlechte Kredithistorie und viel zu wenig Einkommen hatten, um sich ein Eigenheim leisten zu können. Diese egalitär motivierten staatlichen Vorgaben waren eine wesentliche Ursache der Subprime-Krise. Dieser Aspekt wird jedoch in vorliegendem Buch leider ausgeblendet.
Der Autor äußert sich extrem kritisch zu den Banken und zum sogenannten Finanzkapitalismus, aber meiner Meinung nach gehen seine Vorschläge zu weit. Für diskussionswürdig halte ich seinen Vorschlag, die Investmentbanking und Geschäftsbanken wieder zu trennen, wie es 1933 in dem Glass-Stegall Act in den USA bereits geschehen war. Wenn er aber beispielsweise Verbriefungen grundsätzlich verbieten und Großbanken zerschlagen will (S. 217), dann schüttet er das Kind mit dem Bade aus.
Auch seine sehr pessimistische Sicht der USA, die sich unwiderruflich im Niedergang befänden (S. 212 ff.), kann ich nicht teilen. Gerade in den letzten beiden Jahren wird deutlich, dass die USA den verhängnisvollen Weg der Deindustrialisierung teilweise wieder umkehren. Zudem gibt es einen gravierenden Unterschied zu den europäischen Staaten, nämlich die positive demografische Entwicklung in den USA. Die eigentliche Zeitbombe in Europa liegt ja in der hochgefährlichen Kombination von Wohlfahrtsstaat und negativer Bevölkerungsentwicklung. Wie auch andere Autoren kritisiert Wittmann die zunehmende Spreizung der Einkommen und Vermögen, vor allem in den USA. Was dabei oft übersehen wird: Menschen, die einfache Arbeiten ausführen, befinden sich nun einmal im Zeitalter der Globalisierung in einem zunehmenden Wettbewerb mit mehreren Milliarden Menschen auf der Erde, die solche einfachen Arbeiten ebenso gut – aber billiger – vollbringen können. Eine ähnlich starke Konkurrenz bei den Tätigkeiten, die von den Wirtschaftseliten ausgeübt werden, gibt es (noch) nicht. Die Spreizung der Gehälter ist also nicht einfach auf den bösen Willen von Aufsichtsräten zurückzuführen, die ihren Managern zu viel zahlen, sondern hat tiefere Ursachen, die man auch kaum beseitigen kann.
Überzeugend sind dagegen die Vorschläge des Autors zu den notwendigen Reformen des Wirtschaftssystems. „Je mehr soziale Rücksichten zum Durchbruch gelangen, desto weniger erweist sich eine derart geschwächte Marktwirtschaft als fähig, den wachstumsbedingten und wachstumserforderlichen Strukturwandel zu vollziehen. Sie altert zum Nachteil aller. Wer das ‚Soziale‘ in der Marktwirtschaft sozusagen grenzenlos weiterentwickeln, ausbauen will, der läuft Gefahr, die auszuhöhlen. Ihr Schicksal ist auf Dauer nicht nur der Niedergang, sondern auch der Untergang.“ (S. 172 f.)
Ob es gelingt, den Wohlfahrtsstaat abzuschaffen und wieder eine echte soziale Marktwirtschaft zu etablieren – hier ist der Autor zu Recht skeptisch. „Die Nutznießer des Wohlfahrtsstaates verfügen aber über eine politische Mehrheit aus Sozialisten, Sozialdemokraten, bis hin zu christlichen und sogar konservativen Parteien.“ (S. 218)
Alles in allem: Ein in vielen Teilen absolut überzeugendes, lesenswertes Buch, das dem Leser, der sich bislang weniger mit solchen Themen befasst hat, einen guten Überblick über die Entwicklung und die spätere Degeneration der Marktwirtschaft gibt. Die Kritik des Autors am Wohlfahrtsstaat ist nur allzu berechtigt. Mit Blick auf die Finanzmärkte vertraut der Autor dann jedoch gar nicht mehr auf den Markt, sondern auf die Kraft staatlicher Regulierungen. Sind aber nicht gerade – wie er auch zeigt – die Eingriffe des Staates (insbesondere über die Zinspolitik der Zentralbanken) die Ursache dafür, dass die marktwirtschaftlichen Selbstheilungskräfte überhaupt keine Chance bekommen haben? R.Z.