Ehrlich gesagt: Ich hatte das Buch schon vor zwei oder drei Jahren gekauft, aber noch nicht gelesen. Ich fand den Titel gleichzeitig interessant und irgendwie auch abschreckend. „Scheitern“. Will man sich damit wirklich befassen, wenn man stark erfolgsorientiert ist? „Scheitern“ klingt ja so wie Niederlage, Scheidung, Insolvenz, Krankheit, Tod – alles Themen, die zu dem Leben von jedem von uns gehören, aber mit denen wir uns in der Regel nur dann befassen, wenn es sein muss.
Ich habe das Buch jetzt doch gelesen, weil mir die Bedeutung des Scheiterns bei folgendem Zitat bewusst wurde: „Wenn dir alles gelingt, was du versuchst, dann versuchst du nicht genug“. Das Zitat stammt nicht aus vorliegendem Buch, sondern von Gordon Moore, dem amerikanischen Computerpionier und Mitbegründer von Intel.
Der Autor dieses lesenswerten Buches drückt diesen Gedanken ebenso überzeugend so aus: „Sie möchten Scheitern möglichst vermeiden? Kein Problem. Gehen Sie einfach kein Risiko ein. Allerdings bleiben Sie dann auch ziemlich erfolglos, denn ohne Risiko gibt es keinen Erfolg.“ (S. 18)
Schützenhöfer knüpft an eine Unterscheidung an, die der amerikanische Wissenschaftler John William Atkinson getroffen hat, nämlich zwischen „Erfolgssuchern“ und „Misserfolgsvermeidern“. Mir hat diese Unterscheidung schon oft im Leben geholfen, das Verhalten von Menschen zu verstehen, auch und gerade im Berufsleben. Deshalb möchte ich ausführlicher darauf eingehen:
Die oberste Priorität von Misserfolgsvermeidern (und das sind aus meiner Sicht die meisten Menschen) ist es eben nicht, erfolgreich zu sein, sondern Misserfolge zu vermeiden. Sie sind nicht angetrieben von der Aussicht auf Erfolg, sondern von der Angst vor dem Scheitern.
Misserfolgsvermeider wählen entweder zu leichte oder zu schwere Aufgaben. „In Prozenten der Erfolgswahrscheinlichkeit ausgedrückt, könnte man sagen, sie wählen solche Herausforderungen, die sie entweder ziemlich sicher mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 bis 100 Prozent bewältigen, oder solche, bei denen die Chancen nur maximal 20 Prozent betragen… Wenn sie sehr leichte Aufgaben wählen, ist die Wahrscheinlichkeit des Gelingens hoch und sie haben, wie es ihrer Zielsetzung entspricht, Misserfolg abgewendet. Die Attraktivität dieses Erfolgs ist zwar nicht hoch, denn er war ja zu erwarten, aber immerhin ist es auch kein Misserfolg. Wie ist es aber, wenn sehr schwierige Aufgaben gewählt werden? Dann ist das Scheitern zwar so gut wie programmiert, aber dieser Misserfolg lässt sich relativ leicht verkraften, denn er kratzt nicht am Selbstbewert.“ (S. 20 f.)
Es ist wichtig, zu verstehen, zu welchem Typ jemand gehört. Ich habe schon in der Schule beobachtet, dass es Schüler gibt, die waren zufrieden, wenn sie keine 4 oder 5 hatten. Hatten sie sich von Note 4 auf Note 3 verbessert, dann haben sie sich darauf ausgeruht, denn der Misserfolg war ja vermieden. Erfolgssucher hingegen, die von Note 4 auf eine 3 gekommen sind, fühlen sich angespornt, so lange weiter zumachen, bis sie eine 2 oder eine 1 haben.
Darf ich noch ein Beispiel aus unserer Branche bringen? Einkäufer bei institutionellen Investoren sind auch nicht selten Misserfolgsvermeider, deren oberste Maxime es ist, nicht das Falsche zu tun. Nicht der Erfolg, sondern die Vermeidung von Misserfolg ist ihre erste Handlungsmaxime. Das ist aus ihrer subjektiven Sicht sogar nicht einmal irrational. Im Gegenteil: Denn wenn es schief geht, können die Konsequenzen für sie persönlich erheblich negativ sein, wenn es gut geht, dann hält sich das Lob in Grenzen, denn sie haben ja nur das gemacht, was man von ihnen ohnehin erwartet, nämlich eine richtige Entscheidung zu treffen. Bei ihnen läuft in der Entscheidungsphase bewusst oder unbewusst ein innerer Dialog ab: „Was passiert, wenn ich mich im Gegensatz zu all den anderen institutionellen Investoren verhalte? Wenn es schiefgehen sollte, wird man mir Vorwürfe machen.“ Verhält sich der Entscheider dagegen im Einklang mit seinen Wettbewerbern und es geht später schief, dann muss er sich keine Vorwürfe anhören. Sein Chef bzw. die Gremien, denen er berichtet, erwarten nicht von ihm, dass er klüger ist als alle anderen. Er weiß, dass er sich dann, wenn sich die Investition als Fehler herausstellen sollte, darauf berufen kann, „alle anderen“ hätten es ja auch so gemacht und „damals“ habe „man“ die Situation „allgemein“ so eingeschätzt.
So, nun zurück zum Buch. Erfolgsmenschen suchen die Herausforderungen eher dort, wie die Chance nur 50/50 steht – dies ist durch wissenschaftliche Experimente bewiesen. „Die Grenzen“, so der Autor, „erfährt man nicht, wenn man ganz einfache oder ganz schwierige Aufgaben wählt, sondern nur, wenn man sich mit gleichwertigen Gegnern misst oder sich an Herausforderungen wagt, die man gerade noch oder eben nicht mehr bewältigen kann. Das Scheitern sagt einem dann, dass man eine Grenze erreicht hat. Zumindest bei diesem Versuch.“ (S. 21 f.)
Versagensangst kann auch den Erfolg blockieren. Deshalb wendet sich der Autor gegen die verbreitete These, man soll die Möglichkeit eines Scheiterns gedanklich ausschließen, um erfolgreich zu sein. „Die Weigerung, das Scheitern einzukalkulieren, hat ihre Ursache darin, dass man glaubt, den Misserfolg nicht ertragen zu können. Das Bewusstsein, auch ein Scheitern verkraften und mit dem Misserfolg leben zu können, befreit dagegen von der Angst vor dem Versagen.“ (S. 26)
Das heißt: Mehr ist nicht immer unbedingt besser. Die Formel „je mehr Anstrengung, desto mehr Erfolg“ gelte eben nicht immer (S. 56 f.). Manchmal kann auch ein Überengagement (wenn sich z.B. jemand vor einer Prüfung „verrückt macht“), dazu führen, dass er die Ergebnisse in der Situation, auf die es ankommt, nicht abrufen kann.
Ein weiterer Punkt, den ich in dem Buch interessant fand: Die Frage der Schuldattribution. Untersuchungen belegen, dass Menschen, die ein Ziel nicht erreichen oder eine Aufgabe nicht bewältigen, das Scheitern – egal aus welchem Grund – am liebsten auf äußere Ursachen zurückführen, also auf übermächtige Gegner, widrige Umstände oder einfach Pech. Bei Erfolg ist es genau umgekehrt. Dieser wird mit eigenem Können und eigenen Fähigkeiten und kaum mit schwachen Konkurrenten oder glücklichen Umständen begründet. (S. 38)
Vordergründig gesehen, ist das ein guter Schutzmechanismus für das Selbstbewusstsein, das nicht so stark angekratzt wird, wenn man die Schuld bei anderen sucht. Ich finde: Das ist eine Strategie für schwache Menschen mit schwachem Selbstvertrauen. Ich habe viel bessere Erfahrungen damit gemacht, die Schuld bei mir zu suchen. Denn wem ich die Schuld gebe, dem gebe ich die Macht. Wenn ich sage, dass es an mir lag, dann heißt das auch, dass ich es verändern kann. Es sei denn, ich führe es auf grundsätzliche, nicht änderbare Defizite in meiner Persönlichkeit zurück.
Eine weitere interessante These: Wir brauchen das Scheitern hin und wieder. Reiht sich ein Erfolg an den nächsten, ist das zwar gut für das Selbstbewusstsein. Aber es birgt auch die Gefahr, dass man sich selbst überschätzt und dann gefährliche Fehler macht (S.74 ff.). Ich habe schon oft Unternehmer beobachtet, die immer wieder Recht behielten, sich dann irgendwann maßlos überschätzten und in einer veränderten Marktsituation die Risiken falsch einschätzten – und schließlich ihre Firma vor die Wand fuhren. Oder die endlos Geld in die Firma nachgeschossen haben, weil das, was ihnen zuvor geholfen hat – Selbstbewusstsein und positives Denken – plötzlich zum Verhängnis wurde. Man könnte sagen: Hin und wieder zu scheitern, schützt vor gefährlicher Hybris und ist geradezu eine Bedingung dauerhaften Erfolges. So formuliert es der Autor zwar nicht wörtlich, aber das ist die Botschaft, die ich aus seinen interessanten Ausführungen mitgenommen habe.
„Wir kommen im Leben um das Scheitern nicht herum, und das ist gut so. Wir brauchen es, um uns selbst zu finden und notwendige Korrekturen auf unserem Weg vorzunehmen. Es hilft uns, unsere Ziele und unsere Möglichkeiten aufeinander abzustimmen, damit wir wissen, was wir wollen oder besser: was wir wollen sollen. Scheitern bedeutet, dass man an eine Grenze gestoßen ist. Das schmerzt. Es bedeutet aber auch, dass man bereit war, eine Chance zu nützen. Damit wir unsere Möglichkeiten voll ausschöpfen können, ist es notwendig, Risiken einzugehen und auch Misserfolge in Kauf zu nehmen.“ (S. 148).
Das Buch über das Scheitern ist eine Pflichtlektüre für jeden, der Erfolg im Leben haben will. Also: Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich und lassen sich nicht durch den Titel des Buches abschrecken. Die Leserinnen dieser Rezension möchte ich noch mit dem Hinweis neugierig machen, dass das Buch ein sehr interessantes Kapitel darüber enthält, wie Frauen (ganz anders als Männer) mit dem Scheitern umgehen. R.Z.