Dies ist eines der faszinierendsten Bücher, die ich 2016 gelesen habe. Die führende Gedächtnisforscherin Julia Shaw zeigt, dass Ereignisse, von denen wir glauben, sie hätten sich ereignet, manchmal überhaupt nicht oder aber in völlig anderer Weise stattgefunden haben als wir glauben. Unsere Erinnerung täuscht uns – viel häufiger als wir glauben. Die Autorin arbeitet u.a. als Kriminalpsychologin und hat vielfach aufgedeckt, dass vermeintliche Erinnerungen von Zeugen falsch waren, wobei es sich keineswegs um bewusste Falschaussagen handelte. Die Zeugen glaubten tatsächlich, sie hätten etwas gesehen, was in Wahrheit so nie stattfand.
Shaw führt aus, „dass sich Erinnerungen für diejenigen, die sie haben, echt anfühlen und folglich auch für andere echt aussehen – sie können Teil der persönlichen Vergangenheit der Person werden, die sich erinnert, ob sie tatsächlich stattgefunden haben oder nicht“ (S. 197).
Experimente zeigen, wie es möglich ist, die Erinnerungen von Menschen zu manipulieren. Dafür braucht es keiner Methoden wie Hypnose oder Gehirnwäsche. Es genügt, Menschen eine Fotomontage vorzulegen, die sie in einem Heißluftballon zeigen – und viele beginnen, sich an die Einzelheiten dieser (vermeintlichen) Ballonfahrt zu erinnern und davon zu erzählen. Die Hälfte der Versuchspersonen erinnerte sich an Einzelheiten der Fahrt im Heißluftballon, die sie tatsächlich nie gemacht hatten (S. 204). Und zwar einfach auf die Aufforderung hin, sich an das Ereignis zu erinnern, während man ihnen ein bearbeitetes Foto vorlegte, auf dem sie im Korb dieses Ballons zu sehen waren.
„Wenn wir ein Foto sehen, erschaffen wir eine neue Erinnerung von diesem Moment, die unsere Erinnerung daran, dass wir etwas selbst erlebt (oder nicht erlebt) haben, überlagern kann (wie bei der verbalen Überschattung). Wenn wir dann an das Ereignis denken, haben wir Mühe, zwischen unserer Erinnerung an das Foto und an unser tatsächliches Erleben zu unterscheiden – möglicherweise ersetzen wir dabei sogar eine echte visuelle Erinnerung durch eine andere.“
Es reicht aus, Personen vermischte Geschichten vorzulegen – erfundene und wahre -, die Bekannte über gemeinsam Erlebtes berichten, und viele Menschen bilden darauf falsche Erinnerungen heraus. Das sind keine Ausnahmefälle und beschränkt sich keineswegs auf leicht beeinflussbare Personen, sondern 70 Prozent der Versuchspersonen glaubten danach tatsächlich, sie hätten beispielsweise ein Verbrechen begangen, obwohl das gar nicht der Fall war (S. 195).
„Wir alle“, so die Autorin, „sind anfällig für die gleichen Arten von Erinnerungstäuschungen und überschätzen die Sicherheit unserer Erinnerungen. Und wir müssen anerkennen, dass allzu große Selbstgewissheit in Bezug auf unsere Erinnerungen nicht angebracht ist. Für mich ist diese Selbstgewissheit vielmehr oft ein Warnsignal. ACHTUNG, diese Person ist sich vielleicht nicht ausreichend über ihre Wahrnehmungsverzerrungen im Klaren. ACHTUNG, diese Person weiß vielleicht nichts von Erinnerungstäuschungen und Erinnerungsschwächen.“ (S. 180).
Shaw berichtet von dem „Innocence Project“ in den USA, das sich der Aufgabe widmete, Unschuldige, die für ein Verbrechen verurteilt worden waren, zu rehabilitieren. Insgesamt wurden 337 Menschen befreit, die zu Unrecht im Gefängnis gesessen hatten – DNA Tests hatten zweifelsfrei belegt, dass sie unschuldig waren und die Tat von einem anderen begangen worden war. Fehlerhafte Erinnerungen von Zeugen spielten in mindestens 75 Prozent dieser Fälle eine Rolle (S. 158).
Die Autorin zeigt auch die Gefahr von Therapien und Psychoanalyse auf, bei denen Patienten dazu gebracht würden, vermeintlich verdrängte Erlebnisse noch einmal zu erleben. Nicht selten würden diese angeblichen Erlebnisse während der Therapie erst „erzeugt“. Ähnliches geschehe bei Polizeibefragungen, bei denen zu oft mit suggestiven Methoden gearbeitet werde. „Das heißt, dass unsere falschen Wahrnehmungen der Wirklichkeit in unser Gedächtnissystem eingespeist und später wieder erinnert werden können, obwohl sie nie die objektive Wirklichkeit abgebildet haben.“ (S. 70) Die falschen Erinnerungen sehen oft echt aus und fühlen sich auch so an – und da sie keine Form der Lüge sind, wirken sie auch nicht wie eine Täuschung (S. 247).
Manchmal komme die Erkenntnis, dass etwas nicht stattgefunden haben kann, nur im Lichte neuer Beweise zustande, die unseren bisherigen Überzeugungen widersprechen. Meist stellten wir unser Gedächtnis aber nicht infrage. Manche Menschen behaupten sogar, sich an Ereignisse ihrer ersten Lebensjahre oder sogar an ihre Geburt zu erinnern. Sie schildern diese Ereignisse so plastisch und mit so vielen Details, dass sie plausibel wirken. In Wahrheit hat die Wissenschaft jedoch herausgefunden, dass solche Erinnerungen an die ersten Lebensjahre unmöglich sind. Meist handelt es sich um Geschichten, die die Eltern uns erzählt haben. Unser Gehirn kann nur unzureichend zwischen eigenen Erinnerungen unterscheiden und Geschichten, die uns andere erzählt haben. Die Autorin spricht von „Quellenverwechslung, bei der wir die Quelle der Information vergessen, an die wir uns erinnern, was uns zu der Annahme verleiten kann, wir hätten Dinge erlebt, von denen man uns nur erzählt hat“ (S. 224).
Hier liege in der Kriminaltechnik eine große Gefahr, wenn Zeugen gemeinsam vernommen würden, sich über eine Tat austauschten oder aus Medien von anderen Tatschilderungen erführen. Sie vermengen dann vielfach die eigenen Erinnerungen mit denen anderer Zeugen. Und die wechselseitige Bestätigung von Zeugenaussagen, die in Wahrheit ein Ergebnis dieser Erinnerungsübertragungen sei, werde dann fälschlich als Beleg für die Korrektheit der Zeugenaussage bewertet.
Das Buch ist in einer lockeren und sympathischen Sprache geschrieben – und die Autorin ist sogar so freundlich, den Leser zuvor auf ein schwerer verdauliches Kapitel über Neurobiologie (Kapitel 3) hinzuweisen und ihm zu „erlauben“, dieses zu überspringen. Das Buch ist im besten Sinne aufklärerisch, denn es kann unsere Skepsis gegenüber eigenen und fremden Erinnerungen stärken – und übrigens auch gegenüber klassischen Therapieformen wie der auf Sigmund Freud zurückgehenden Psychoanalyse. Vermutlich wurden manche Traumata erst in solchen Therapien erzeugt – und die Menschen leiden dann darunter, als ob sie diese Dinge wirklich erlebt hätten.
Man kann nur hoffen, dass die Erkenntnisse der Kriminalpsychologin auch von Richtern und Polizeibeamten zur Kenntnis genommen werden, damit Zeugenaussagen angemessen bewertet und bei Befragungen die von ihr aufgezeigten Fehler vermieden werden. Dr. Rainer Zitelmann.