Das ist ein faszinierendes Buch! Wer es nicht gelesen hat, versteht die heutige Welt nicht richtig. Das ist nicht übertrieben. Umgekehrt gilt: Wer es gelesen hat, der hat den Eindruck, er sei selbst im Silicon Valley gewesen. Der Autor – Executive Vice President bei Axel Springer – lebte zusammen mit einigen anderen Führungskräften des Springer-Verlages ein halbes Jahr in Palo Alto, um den digitalen Wandel und seine Folgen für die Medienbranche zu untersuchen.
Der Erfolg des Silicon Valley basiert darauf, dass es dort die Standfort-Universität gibt, die die klügsten Köpfe der Welt anzieht – und Venture-Capital-Geber, die die neugierigen Gründer finanzieren. Stanford verfügt über ein Jahresbudget von knapp fünf Mrd. Dollar, fast zehnmal so viel wie die Uni Köln, Deutschlands größte Hochschule. Jährlich gehen etwa eine Mrd. Dollar Spenden ein, das Tausendfache des in Europa üblichen Niveaus. Das Vermögen der Uni-Stiftung bilanziert sich auf 18 Mrd. Dollar – so viel wie in Deutschland das Budget des Bundesbildungsministeriums. Aus Stanford sind 40.000 aktive Unternehmen hervorgegangen, die bisher einen Weltumsatz von 2,7 Bio. Dollar erzielt haben.
Das Besondere an der Uni ist, wie sich hier Theorie und Praxis, Forschung und Gründergeist verbinden. Die Studenten werden nicht – wie in Deutschland – zu Angestellten und Beamten ausgebildet, sondern sie werden inspiriert, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. In dem Zentrum „Start X“ können die Studenten auch als Gründer auf dem Campus bleiben. Der Leiter dieses Zentrums sagt: „Es ist nicht einzusehen, warum Studenten den Campus verlassen sollen, um in ihrer Firma zu arbeiten. Das ist Denken von vorgestern. Wir geben ihnen Räume der Universität. Hier finden sie alles, was sie brauchen. Ihrer akademischen Leistung schadet das nicht. Eher im Gegenteil.“ (S. 75) Statt erdachte Managementaufgaben zu lösen, lösen die Studenten echte Probleme, die oft zu neuen Unternehmen führen.
Der amerikanische Traum lebt im Silicon Valley wie sonst nirgends in den USA. Da gibt es etwa die Geschichte von Mike McCue, der früher von Lebensmittelmarken lebte und dann innerhalb von drei Jahren die Firma Flipboard aufgebaut hat. Heute beschäftigt die Firma 80 Mitarbeiter, hat 60 Mio. Nutzer und ist 800 Mio. Dollar wert (S. 85). Den meisten Gründern geht es jedoch, so Keese, nicht vor allem darum, viel Geld zu verdienen (obwohl das sicherlich auch ein nicht zu unterschätzender Anreiz ist), sondern um die sportliche Herausforderung, möglichst schwierige Probleme zu lösen. „Sie wollen echte Probleme in der realen Welt lösen. Je komplizierter, desto besser.“ (S. 91)
Ein wichtiger Begriff, um den Erfolg zu verstehen, ist der des „Pivoting“. Damit ist gemeint, dass man sein Geschäftsmodell radikal verändern muss, wenn man sieht, dass die ursprüngliche Geschäftsidee nicht funktioniert. „Ziel ist es nicht, ein ursprüngliches Konzept umzusetzen und damit zu beweisen, wie gut der Plan war. Ziel ist, sich eine Stellung im Markt zu erkämpfen. Wenn das heißt, den Plan zu kippen, wird der Plan gekippt.“ (S. 97) Pivoting hat nichts Ehrenrühriges und ist normal. „We pivoted“ ist eine geläufige Feststellung in jedem Gespräch. „Wenn sie nicht fällt, werden Gesprächspartner skeptisch. Musste eine Firma noch nicht pivoten, heißt das nur, dass es ihr noch bevorsteht.“ (S. 96).
Das Bestechende an dem Buch ist, dass man dem Autor die Begeisterung und Bewunderung für das Silicon Valley und seine Menschen und Ideen anmerkt, ohne dass er dabei unkritisch wird und die Probleme verschweigt. Sehr nachdenklich wurde ich, als ich die Seiten 144 ff. gelesen habe. Hier berichtet er, dass die Rendite der Venture-Capital-Fonds, die die neuen Unternehmen finanzieren, ständig sinke. Ende der 90er Jahre konnten enorme Renditen erzielt werden, weil viele Start-up-Unternehmen mit unglaublichen Bewertungen an die Börse gingen oder an Finanzinvestoren verkauft wurden. Die Rendite der Fonds, die nach dem Jahr 2000 aufgelegt wurden, liege jedoch im Schnitt bei null (S.154). Die einzigen, die von den immer größeren und immer zahlreicheren Fonds profitieren, seien die General Partner, die die Fonds auflegten. Zwar werden nach wie vor Milliarden-Beträge für die VC-Fonds eingesammelt, aber es mache sich zunehmend Unmut unter Investoren breit, weil die in Aussicht gestellten Renditen nur noch selten erreicht werden.
Das ist bedenklich, Denn der Erfolg des Silicon Valley hängt an der Verbindung des Unternehmergeistes und Erfindungsreichtums junger Leute mit den Milliarden-Beträgen der Venture-Capital-Geber. Wenn denen eines Tages das Geld ausginge, weil es sich herumspricht, dass man keine attraktiven Renditen mehr erzielen kann, dann würde die Basis dieser Erfolgsstory zerstört. Und das wäre jammerschade!
Bei den Gründungen im Internet-Bereich geht es oft darum, zunächst einmal – um fast jeden Preis – Marktanteile zu gewinnen. In den ersten Jahren werden dabei keine Gewinne erwirtschaftet. Die Unternehmen können nur existieren, wenn der ständige Zustrom von Investorengeldern nicht nachlässt. Nur so kann die Expansion finanziert werden. Was ist, wenn dieser Zustrom ausbleibt?
Wird der Erfolg zur Ursache des Scheiterns? Die hohen Renditen der Vergangenheit und die außergewöhnlichen Erfolgsgeschichten von Unternehmen wie Amazon, Google oder Facebook haben immer mehr Investorengeld angezogen. Doch selbst im Silicon Valley, wo die Ideen der Studenten und jungen Gründer nur so sprudeln und neue Firmen wie am Fließband entstehen, lassen sich neue Geschäftsideen nicht endlos vermehren. Die Venture-Capital-Fonds sammeln auch dann noch Gelder ein, wenn es eigentlich nicht ausreichend gute Ideen gibt, die sie finanzieren können. Denn ihre Vergütung erfolgt ja keineswegs nur auf Erfolgsbasis, sondern sie bekommen desto höhere Fees, je höher das von ihnen verwaltete Kapital ist. Also sammeln sie mehr Gelder ein, als sie wirklich sinnvoll investieren können. Die Ausfallquoten steigen und die Renditen sinken.
Noch ist es aber nicht so weit, dass der Geldstrom versiegt. Keese zeigt, wie durch die Digitalisierung alle Branchen radikal verändert werden – die Medienwelt, die Hotels, irgendwann auch die Automobilbranche und die Banken. Er zeigt immer wieder, dass Deutschland diese Entwicklung verschlafen hat. Und er zeigt, wie verletzlich sogar altehrwürdige, etablierte Industrien wie die Automobilindustrie sind. Unternehmen wie Google arbeiten schon an den Autos einer neuen Generation. Etablierte Unternehmen haben es schwerer, radikal umzudenken und ihr bestehendes Geschäftsmodell in Frage zu stellen.
Vor allem: Die Erfinder aus dem Silicon Valley sind unglaublich schnell, wie der Autor auf S. 120 ff. („Hochgeschwindigkeitsökonomie: Die Entdeckung der Schnelligkeit“) zeigt. Die Start-ups sind in Runden finanziert. Jede Finanzierungsrunde verwässert die Anteile der Gründer. Deshalb müssen sie schnell, sehr schnell sein, damit ihre Anteile nicht so weit verwässert werden, dass sie am Schluss nicht mehr viel verdienen, weil ihnen nur noch ein sehr kleiner Anteil der Firma gehört. Im Silicon Valley geht alles schnell. Bei dem Demo-Day des Y Combinators dürfen die Firmen ihr neues Geschäftsmodell vortragen, aber sie haben dafür nur zweieinhalb Minuten Zeit. In dieser Zeit müssen sie die Geldgeber überzeugen (S. 133). Das zwingt sie, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das ist es überhaupt das, worum es im Silicon Valley geht. Perfektion ist nicht gefragt. Statt perfekt zu zögern, bringt man ein Produkt an den Markt, von dem man weiß, dass es nicht perfekt ist. Es wird erst in der Praxis durch die Kritik der Kunden perfekt. So hatten übrigens schon Bill Gates, Steve Jobs und Larry Ellison gearbeitet: Keines ihrer Produkte war perfekt, als es an den Start ging. Sie verstanden jedoch, dass Schnelligkeit wichtiger ist als Perfektion.
Sigmar Gabriel hat das Buch empfohlen, wie man auf dem Umschlag lesen kann. Merkwürdig eigentlich. Ich erinnere mich noch, wie er vor einem „Silicon Valley-Kapitalismus“ in Deutschland warnte. Dabei ist es ganz genau das, was wir dringend brauchen, wenn Deutschland als Wirtschaftsstandort im Zeitalter des Internets und der Globalisierung eine Zukunft haben will. Toll, dass der Axel Springer Verlag seine besten Leute ein halbes Jahr nach Silicon Valley schickt, um diese Entwicklung zu verstehen. Machen das andere deutsche Unternehmen nach? R.Z.