„Es war, als würde man der eigenen Hinrichtung beiwohnen“ – mit diesen Worten beschreibt Solms, wie er und andere Mitglieder der FDP am Abend der Bundestagswahl vom 22. September 2013 fühlten, als die Partei erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik an der 5-Prozent-Hürde scheiterte. Und in den Monaten danach wurde es nicht besser. Im Gegenteil. In der Öffentlichkeit, so erinnert sich Solms, wurde „nahezu ausschließlich mit Hohn und Spott über die FDP geredet. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, die Leute hätten Spaß daran, auf eine Partei einzuprügeln, die ohnehin schon am Boden lag.“
Solms Analyse, wie es dazu überhaupt kommen konnte, ist ein entscheidender Schlüssel, wenn man Christian Linders Agieren vor – und nach – der Bundestagswahl vom 26. September 2021 verstehen will. Lindner selbst hat Solms in seinem eigenen Buch „Schattenjahre: Die Rückkehr des politischen Liberalismus“ (2017) als seinen „Beichtvater“ bezeichnet, und Solms ist auch heute einer seiner wichtigsten Berater.
Um es vorweg zu sagen: Nach Solms’ Deutung scheiterte die FDP am 22. September 2013, weil ihr damaliger Vorsitzender Guido Westerwelle es nach der Bundestagswahl vom 27. September 2009 versäumt hatte, darauf zu bestehen, dass die Liberalen das Finanzministerium besetzen. Stattdessen wurde Westerwelle Außenminister.
Dies, so Solms, sei aus einem doppelten Grund ein Fehler gewesen: Erstens: Das sensationelle Ergebnis von 14,6 Prozent habe die Partei vor allem wegen ihrem steuerpolitischen Konzept erzielt. Zweitens: Heute sei das Finanzministerium (und nicht etwa das Außenministerium) die entscheidende Machtposition in einer Regierung.
Auf den Finanzminister kommt es an!
Westerwelle sei in den Koalitionsverhandlungen 2009 sein ehedem so ausgeprägter politischer Instinkt abhanden gekommen. Schon im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen habe er sich offenbar mit seiner „Freundin“ Angela Merkel abgestimmt und darauf geeinigt, dass er Außenminister werde. Eine „fixe Idee“, so Solms, die der Machtstrategin Merkel jedoch „offenkundig sehr zupass“ gekommen sei. Solms berichtet über ein Vieraugengespräch mit Westerwelle, in dem er ihn warnte: „Sie machen einen fundamentalen Fehler, wenn Sie das, was wir den Wählern versprochen haben, links liegen lassen. Wir haben die Meinungsführerschaft in der Finanzpolitik, das wird in allen Umfragen bestätigt.“ Das war der erste Grund, warum es aus der Sicht von Solms wichtig gewesen wäre, das Finanzministerium zu besetzen. Auch wenn die FDP im Wahlkampf 2021 nicht ausschließlich auf die Finanzpolitik fixiert ist, so hat Lindner doch immer wieder eines klar versichert: Die Liberalen werden keinen Koalitionsvertrag mit Steuererhöhungen unterschreiben.
Außer dem Argument, dass es für eine Partei tödlich sei, ihr zentrales Wahlversprechen zu brechen, fügt Solms ein prinzipielles Argument hinzu, warum die Position des Finanzministers heute so wichtig sei: Die Handlungsmöglichkeiten eines Außenministers seien durch die europäische Einigung viel geringer geworden. „Um das zu erkennen, braucht man sich nur in Erinnerung zu rufen, zu welchen Weltproblemen der jetzige Außenminister Heiko Maas schon alles seine ‚Besorgnis’ zum Ausdruck gebracht hat, ohne dass konkrete Handlungsansätze daran geknüpft waren. Die Außenminister kommentieren heutzutage die Politik, gestalten sie aber nicht mehr.“ Dagegen sei die Bedeutung der Finanzminister sehr stark gewachsen ihnen komme heute die „Schlüsselrolle“ zu. Das Finanzministerium sei „das stärkste nach dem Kanzleramt“.
CDU wollte „aus Lindner den Guido machen“
Liest man diese Analyse und versteht, wie schwer das im Jahr 2009 begründete Trauma von 2013 für die FDP wiegt, dann wird klar, wie wichtig das Finanzministerium für die FDP ist. Und man sollte sich nicht darauf verlassen, dass sie 2021 um jeden Preis mitregieren will.
Solms widmet mehrere Seiten dem Thema „Warum es richtig war, die Jamaika-Sondierungen zu beenden“. Er erinnert sich, er habe Lindner schon vor Beginn dieser Gespräche gewarnt: „Passen Sie auf: Wir sollen bloß die Mehrheit für die Kanzlerwahl sichern. Erinnern Sie sich, wie Merkel zwischen 2009 und 2013 mit uns umgesprungen ist. Sie wird nicht bereit sein, unsere inhaltlichen Kernforderungen anzuerkennen.“ Die Union habe sich darauf konzentriert, die Grünen an Bord zu holen und es ihnen Recht zu machen. Volker Kauder, damals CDU-Fraktionsvorsitzender, habe im kleinen Kreis erklärt, man wolle aus Lindner „den Guido machen“. Im Klartext: ihn wie Westerwelle 2009 mit einem Posten ohne inhaltliche Zugeständnisse an die FDP abspeisen. Solms berichtet, ihm sei ein Stein vom Herzen gefallen, als Lindner erklärte, es sei besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren: „Wie hätten wir unseren Mitgliedern und Wählern erklären sollen, ohne inhaltliche Ergebnisse in eine Jamaika-Regierung einzutreten?“ Dies sei in einer Schwarz-Gelb-Grünen Koalition „selbstmörderisch“. „Wir hatten 2013 erlebt, was aus enttäuschten Hoffnungen unserer Wählerschaft erwächst und unsere Lehren daraus gezogen.“ Behält die FDP diese Lehren auch 2021 in Erinnerung? Diejenigen, die Sondierungs- oder Koalitionsgespräche mit der FDP führen, sollten sich nicht so sicher sein, dass die FDP um jeden Preis mitregieren wird – und das Buch von Solms aufmerksam lesen.
Solms zu Thüringen und Kemmerich
Solms geht auch auf die Wahl von Thomas Kemmerich in Thüringen ein. Er meint, es sei richtig gewesen, dass Kemmerich als Alternative zu einer radikalen Regierung kandidiert habe. Statt die Wahl zum Ministerpräsidenten, die bekanntlich auch mit Stimmen der AfD erfolgte, gleich anzunehmen, hätte er sich jedoch eine Bedenkzeit erbitten sollen, so Solms: „Danach hätte er ein Angebot an CDU, SPD und Grüne erneuern können, gemeinsam mit der FDP eine Mehrheit in der Mitte des parlamentarischen Spektrums zu bilden. Wenn auch dann SPD und Grüne wegen ihrer politisch unverantwortlichen Bindung an Die Linke abgeblockt hätten, wie zu erwarten war, hätte er seine Wahl zum Ministerpräsidenten mit Hinweis auf die Verweigerungshaltung von Rot-Grün ablehnen können. So wäre für alle sichtbar gewesen, dass es für seinen Plan einer bürgerlichen Regierung der Mitte keine Chancen gab.“
Solms ist in diesen Passagen nicht unkritisch zu Lindner, über den er ansonsten ausschließlich sehr positiv schreibt. Er hält es für falsch, dass Lindner sich für Kemmerichs Wahl immer wieder entschuldigte. Damals habe er Lindner gesagt: „Sie hätten sich nicht entschuldigen sollen. Sie haben doch gar nichts falsch gemacht.“ Besonders geärgert habe ihn, so Solms, „dass auch einige führende Parteifreunde nichts Besseres zu tun hatten, als der Presse gegenüber ihre Empörung über den Erfurter ‚Sündenfall’ kundzutun“. Für Solms ein Ausdruck des „Egotrips“ einiger Parteifreunde in einer Situation, wo vielmehr innerparteiliche Geschlossenheit das oberste Gebot gewesen wäre.
Das Buch von Solms enthält noch zahlreiche weitere Insider-Bericht aus der Bonner und Berliner Politik. Aus seiner kritischen Haltung zu Angela Merkel, die immer weiter nach links gerückt sei, macht er kein Geheimnis. Auch mit Kritik an dem in der FDP verehrten Hans-Dietrich Genscher hält Solms nicht hinter dem Berg. Es wird das Bild eines Politikers deutlich, der sich ein unabhängiges Urteil erlaubt und auch erlauben kann. Einer der Gründe ist, dass Solms als erfolgreicher Unternehmer auch jene finanzielle Unabhängigkeit gewonnen hatte, mit der es leichter fällt, sich eine eigene Meinung zu leisten und „ein selbstbestimmtes Leben“ (so der Untertitel des Buches) zu führen. Dabei blieb er jedoch immer kompromissbereit, was sogar so weit ging, dass er nach außen die „Griechenland-Rettung“ unterstützte, die er innerlich ablehnte. Bei seinem Abschied aus der Politik wurde er auf dem Parteitag mit Ovationen gefeiert, wie wohl kein FDP-Politiker vor ihm, als – für Solms selbst überraschend – Christian Lindner vorschlug, ihn zum Ehrenvorsitzenden zu küren.