Dies ist die ungewöhnlichste Hauptversammlung der Welt: Zehntausende Aktionäre treffen sich jährlich in Omaha zur Hauptversammlung von Berkshire Hathaway, um Warren Buffett und Charlie Munger live zu erleben. Jeff Matthews, ein Hedgefonds-Manager aus New York, berichtet in diesem Buch über zwei Versammlungen in den Jahren 2007 und 2008.
Im Mittelpunkt der Hauptversammlungen stehen die Fragerunden. Etwa 50 Aktionäre stellen ihre Fragen an Buffett und Munger. Diese antworten spontan – ohne den sonst bei Hauptversammlungen üblichen Stab von Juristen und anderen Fachleuten.
Die am häufigsten gestellte Frage kommt von jüngeren Mitgliedern des Publikums. Die Frage lautet: „Was sollte ich tun, um ein guter Anleger zu werden?“ Ein 17-Jähriger aus San Francisco, der sagt, dass dies seine zehnte Versammlung in Folge sei, stellt die Frage. Und Buffett antwortet: „Lesen Sie alles, was Sie lesen können“. Er fährt fort: „Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich alle Bücher in der öffentlichen Bibliothek von Omaha gelesen, die das Wort ‚Finanzen’ im Titel trugen, und manche davon zweimal.“ Buffett liest so viel wie wohl nur wenige Menschen (S.118). Sein Partner Munger ist ein selbsternannter „Biographien-Narr“. Er liest im Schnitt ein Buch am Tag. Er betrachtet den Erwerb von Wissen als „moralische Pflicht“.
Die Antworten von Buffett und Munger sind unkonventionell. Von den Dogmen der an Universitäten verbreiteten Finanz- und Wirtschaftstheorien halten sie gar nichts. Ein Aktionär aus Los Angeles fragt etwa nach dem „Beta“, einer mathematischen Berechnung der Volatilität, die von vielen Geldverwaltern verwendet wird, um das Risiko eines Anlageportfolios zu bestimmen. „Das Beta ist hübsch und es ist mathematisch“, so Buffett. „Aber es ist falsch. Es ist kein Maß für das Risiko.“ Dann vergleicht Buffett das Beta mit dem Preis von Farmland. „Nehmen Sie das Farmland von Nebraska: Der Preis ist von 2000 auf 600 Dollar pro Morgen gefallen. Das Beta von Farmland ist steil gestiegen und nach der normalen Wirtschaftstheorie würde ich ein größeres Risiko eingehen, wenn ich für 600 Dollar kaufe. Das ist Unsinn.“ (S.160 f.).
Haben Buffett und Munger die Gefahren frühzeitig erkannt, die sich in der Finanzkrise realisierten? Im Jahr 2007 erklärte Buffett, angesprochen auf Derivate: „Wir wissen vielleicht nicht, wann das zu einer Supergefahr wird und wann genau sie enden wird, aber ich glaube, dass sie lange anhalten und wachsen wird, dass sich daraus sehr unangenehme Ereignisse ergeben.“ Und: „Ich glaube, es könnte ein äußeres Ereignis eintreten, eine Erschütterung des Systems, die für eine riesige Vergrößerung der Risikoprämien und für einen Kursverfall der Aktien sorgt.“ (S.198).
Viele Fragen sind allgemeiner Natur. Ein Anleger fragt nach der Beziehung, die Buffett zu Jesus Christus habe, einige Indianer protestieren gegen die Beteiligung eines Berkshire Hathaway-Unternehmens an einem Staudamm-Projekt, andere wollen wissen, wer nach Buffetts Meinung der beste Präsident für die USA sei. Es wird kaum eine Frage zu den einzelnen Beteiligungen von Berkshire Hathaway gestellt.
Er habe, so der Autor, in den Versammlungen und den Fragerunden nichts über Berkshire Hathaway gehört, was er nicht schon vorher wusste (S.206). Das liege nicht daran, dass Buffett solche Fragen nicht beantworten wolle, sondern dass sich kein Aktionär so sehr dafür interessierte, dass er danach gefragt hätte – oder dass sich niemand traute. „Wenn Sie die Chance hätten, Warren Buffett vor 27.000 Menschen eine Frage zu stellen, dann würden Sie ja wahrscheinlich auch keine so profane Frage wie die stellen, weshalb See’s Candies östlich von Chicago keine Geschäfte hat, während Starbucks – auch nur ein Kaffeeladen – eine anerkannte Weltmarke ist… Oder warum Nebraska Furniture Mart sein ‚Big-box’-Modell nicht wie Best Buy auf das ganze Land ausdehnt.“ (S.207) Die Teilnehmer der Hauptversammlung stellen jedenfalls solche Fragen nicht, sondern danken Buffett und Munger dafür, dass sie sie reich gemacht haben und fragen, wo sie investieren sollen.
Der Autor des Buches stellt indes solche Fragen. Auch er bewundert Buffett und dessen Investmenterfolge, aber er stellt zugleich auch kritische Fragen. Dass viele Unternehmen der Gruppe nicht besser performen, liege vielleicht daran, dass die Berkshire-Unternehmen ihr überschüssiges Geld an Warren Buffett schicken, statt zukunftsträchtige Investitionen in das eigene Unternehmen zu tätigen und die eigene Expansion zu finanzieren. Vielleicht habe es aber auch mit Buffetts Management-Stil der Nichteinmischung zu tun, da er den größten Teil der Entscheidungen den langjährigen Managern der Berkshire-Unternehmen überlässt. In manchen Fällen seien diese Manager jedoch Familienmitglieder in der zweiten und dritten Generation.
Wer, wie der Rezensent, bereits viele Buffett-Biographien gelesen hat, wird zwar nicht sehr viel Neues über den besten Investor aller Zeiten erfahren, aber er erhält ein sensibles und detailliertes Bild des „Kapitalisten-Woodstock“-Ereignisses, das ein Mal im Jahr stattfindet, ohne selbst nach Omaha fliegen zu müssen.