Bücher, in denen es dem Autor gelingt, Meinungen oder Überzeugungen, die der Leser sein Leben lang vertreten hat, zu erschüttern, liest man nicht jeden Tag. Dies ist so ein Buch. Wir alle gehen – bewusst oder unbewusst – davon aus, dass einer von vielen Faktoren, die für den besonderen Erfolg von Musikern, Sportlern usw. verantwortlich sind, im besonderen Talent dieser Menschen besteht. Wir alle glauben, dass etwa ein Musikgenie wie Mozart oder ein Spitzensportler wie Tiger Woods nicht nur durch intensives Üben und Trainieren zu ihren ungewöhnlichen Spitzenleistungen kamen, sondern eben auch durch eine besondere Veranlagung, ohne die alles Üben und Trainieren nur wenig genützt hätte.
Colvin vertritt die Gegenthese: Es gebe keine Beweise dafür, dass in einem Bereich ganz besonders erfolgreiche Menschen bereits von Geburt an über besondere Veranlagungen verfügten. Spontan möchte der Leser dem widersprechen, aber der Autor trägt eine Fülle von gut durchdachten und begründeten Argumenten und Studien vor, die seine These belegen. Und er bleibt dennoch so vorsichtig, dass er nicht sagt, Talent spiele gar keine Rolle, sondern dass er formuliert: Zumindest werde von uns allen die Veranlagung ganz erheblich überschätzt und es gebe bislang keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass Menschen, die ungewöhnliche Spitzenleistungen erbringen, dafür eine besondere genetische Voraussetzung mitbrächten.
Der Autor führt eine Fülle von Forschungsergebnissen an, bei denen leistungsstarke Menschen in verschiedenen Gebieten untersucht wurden. Er zitiert Studien über Musiker, Tennisspieler, Künstler, Schwimmer und Mathematiker. Die Studien kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Talent – wenn überhaupt – zumindest eine sehr viel geringere Rolle spielt als wir gemeinhin glauben.
Aber was, so wird der Leser einwenden, ist denn nun mit Genies wie Mozart oder Tiger Woods, die bereits in jungen Jahren außergewöhnliche Erfolge erzielten? Der Autor zeigt, dass gerade diese beiden häufig angeführten Beispiele kein Beleg für die These sind, dass Talente angeboren seien. Beide, Mozart und Tiger Woods, wurden schon in sehr frühem Alter systematisch von ihren Vätern trainiert. Mozarts Vater war selbst Komponist und erlegte seinem Sohn bereits im Alter von drei Jahren ein strenges Übungsprogramm auf. Er besaß außerordentliche Fähigkeiten als Lehrer, hatte schon im Jahr der Geburt seines Sohnes ein Buch über Violinunterricht veröffentlicht. Dass Mozart bereits als Kind Werke komponiert habe, sei eine Legende – sein erstes, später bekannt gewordenes Klavierkonzert habe er im Alter von 21 Jahren komponiert, nachdem er immerhin 18 Jahre lang eine äußerst strenge, fachmännische Ausbildung hinter sich gebracht hatte. Auch Tiger Woods wurde in die Familie eines erfahrenen Golfers und bekennenden „Golf-Süchtigen“ geboren, der sehr gerne unterrichtete und geradezu erpicht darauf war, seinen kleinen Sohn so früh wie möglich in das Spiel einzuweisen. Noch vor Tigers zweitem Geburtstag waren Vater und Sohn regelmäßig zusammen auf dem Golfplatz um zu spielen und zu üben.
Die These des Autors, die er auch an vielen weiteren Beispielen belegt: Nicht das Talent, sondern das „bewusste Üben“, das über Jahre und Jahrzehnte mit unerbittlicher Disziplin praktiziert wird, ist der Hauptgrund für den Erfolg von Menschen. Sowohl die Dauer als auch die Intensität und die Art des Übens unterscheiden sich ganz erheblich bei Spitzenkräften und durchschnittlichen Könnern in ihrem Gebiet. So ergab beispielsweise eine Untersuchung, dass die besten Violinisten 24 Stunden pro Woche alleine übten, während gute Violinisten „nur“ neun Stunden alleine übten. Viele wissenschaftliche Untersuchungen bestätigten dabei die sogenannte „Zehn-Jahres-Regel“: Ob in der Mathematik, in Naturwissenschaften, in der Musik oder beim Sport – niemand wird ohne eine mindestens zehnjährige Vorbereitung zu einem Meister seines Faches. Bei vielen Wissenschaftlern dauert es sogar 20 Jahre.
Entscheidend sind nicht nur die Dauer und die Intensität des Übens, sondern auch die Art des Übens. Was viele Menschen unter „üben“ verstehen, hat nichts mit dem „bewussten Üben“ zu tun, von dem der Autor spricht. Eine bestimmte Tätigkeit nur immer wieder in der gleichen oder ähnlichen Art auszuführen, führt natürlich nicht zu den dramatischen Verbesserungen, die notwendig sind, um Spitzenleistungen zu erbringen. Ein Charakteristikum des „bewussten Übens“ sei vielmehr, dass sich der Übende über lange Zeit alleine auf einen ganz bestimmten Aspekt seiner Tätigkeit konzentriere, und zwar so lange, bis hier ein deutlicher Fortschritt erreicht ist. Man identifiziert ganz bestimmte Teilbereiche, die der Verbesserung bedürfen und geht diese systematisch an. Die Meister ihres Faches wiederholen ihren Übungen bis zum Gehtnichtmehr. Ted Williams beispielsweise, der beste Schlagmann im Baseball, übte so lange, bis ihm die Hände bluteten. Und Pete Maravich, dessen Rekorde im College-Basketball nach mehr als 30 Jahren immer noch ungebrochen sind, ging morgens zur Turnhalle, als sie öffnete und warf Körbe, bis sie nachts schloss.
Wenn das der Weg zum Erfolg ist, warum gehen nicht mehr erfolgshungrige Menschen diesen Weg? Weil er mental ungeheuer anstrengend ist. Die ständige Suche nach jenen Aspekten, wo man nicht so gut ist und sich verbessern muss sowie die anschließende harte und oft monotone Arbeit an diesen Schwachstellen ist anstrengender, als die meisten Menschen sich dies vorzustellen vermögen. Die meisten Menschen tun lieber immer wieder jene Dinge, die sie ohnehin schon gut können, weil das eben mehr Freude macht und schneller eine größere Anerkennung bringt. Die Kunst liegt jedoch darin, innerhalb jenes Bereiches, in dem man gut ist, jene Teilbereiche zu identifizieren, deren Optimierung einen wirklichen, entscheidenden Unterschied ausmacht.
Welche Bereiche sind das im Wirtschaftsleben? Ich glaube, neben dem Fachwissen ist es insbesondere die Kompetenz im Umgang mit anderen Menschen. Ein Beispiel dafür, das der Autor in seinem Buch zusätzlich anführen könnte, um seine These zu stützen, ist Warren Buffett. Der beste Investor aller Zeiten hatte nicht nur bereits im Alter von zehn Jahren jedes einzelne Buch in der Bibliothek von Omaha gelesen, das das Wort „Finanzen“ im Titel trug, sondern er absolvierte später ein systematisch konzipiertes Training auf Basis des Buches von Dale Carnegie „Wie man Freunde gewinnt“ – ein Training, das haargenau dem Konzept entspricht, das der Autor mit dem Begriff des „bewussten Übens“ bezeichnet.
Dieses Buch ist anders als zahllose andere Bücher über „Erfolg“. Anders deshalb, weil man auf jeder Seite neue, überraschende Gedanken und Beispiele findet, die man noch in keinem Buch zuvor gelesen hat. Anders, weil man übliche Erfolgsformeln, die in anderen Büchern immer wiederholt werden, nicht findet, dafür jedoch eine Fülle neuer, sehr anregender Gedanken. Mir gefallen Bücher, in denen der Autor sehr einseitig eine bestimmte These vertritt, wenn diese These sehr gut belegt wird und sich der Autor klug und überzeugend mit all den Argumenten auseinandersetzt, die gegen seine These sprechen könnten. Genau dies trifft auf dieses Buch zu. Für jeden, der – ob nun in der Wirtschaft oder in einem anderen Bereich – überdurchschnittlich erfolgreich sein möchte, gibt dieses Buch eine Menge Stoff zum Nachdenken. Und es ist auch ein Buch, das sehr viel Hoffnung gibt, weil man allenfalls bedauern kann, nicht früh genug mit dem „bewussten Üben“ auf einem bestimmten Gebiet begonnen zu haben, dies jedoch jederzeit tun kann. Vielleicht wird man dann nicht mehr der weltweit Beste in seinem Bereich, aber man wird sich dramatisch verbessern, wenn man sich erst einmal bewusst gemacht hat, dass mögliche Begrenzungen durch „schlechtere Anlagen“ – wenn überhaupt – eine sehr viel geringere Rolle spielen, als man dachte und dafür das jahrelange, intelligent konzipierte und mit äußerster Disziplin durchgeführte Training sehr viel mehr bewirken kann, als man dies vielleicht bis dahin für möglich gehalten hätte.