Dieses Buch habe ich mit besonderer Neugier gelesen, denn der Verfasser war früher mein direkter Vorgesetzter – Mathias Döpfner, damals Chefredakteur der Tageszeitung DIE WELT, heute Vorstandsvorsitzender des Axel Springer Verlages, Europas größtem Zeitungshaus. Döpfner ist jemand, der gerne gegen den Strom schwimmt. Der sich gerade dann zum Widerspruch herausgefordert fühlt, wenn alle einer Meinung sind: „Wenn Meinungen und Überzeugungen zu eindeutig daherkommen, reizt es mich, das Gegenteil von dem zu sagen, was mein Gegenüber erwartet, oder das Gegenteil von dem, was die Mehrheit für richtig hält.“ (S. 24f.) So wagt Döpfner die größtmögliche Provokation im politischen Mainstream der Bundesrepublik Deutschland, indem er sich weigert, George W. Bush für eine Inkarnation des Bösen zu halten (S.25, S.,241 ff.)
In Döpfners Buch geht es um die Gefährdungen der Freiheit. Die Freiheit, so seine These, ist heute weltweit bedroht – durch die Schwächung Europas, durch den radikalen Islamismus, durch den Staatskapitalismus Chinas und die Abschaffung der Privatsphäre im Internet. All diese Themen werden ausführlich und anschaulich behandelt – und jeder Leser versteht das Ausmaß, in dem die Freiheit durch die von Döpfner angesprochenen Entwicklungen bedroht ist.
Bedroht ist sie aber vor allem dadurch, dass die Menschen in Deutschland und Europa die Freiheit zu selbstverständlich nehmen und nicht mehr bereit sind, sie selbstbewusst, aktiv und auch kämpferisch gegen ihre Feinde zu verteidigen. „Je freier die Deutschen und die Europäer geworden sind, desto unwichtiger wurde ihnen die Freiheit. Das ist psychologisch verständlich. Was man nicht hat, will man erringen. Was man hat, nimmt man als gegeben, als selbstverständlich hin.“ (S.23) Doch genau dies sei gefährlich. „Denn das, was man nicht aktiv verteidigt, kann leicht wieder abhanden kommen. Wir glauben, die Freiheit für immer zu besitzen. Und wir merken nicht, wie die Freiheit uns unter den Händen zerrinnt.“ (S.23)
Dass die Freiheit weltweit eher auf dem Rückzug als auf dem Siegesmarsch ist, lässt sich auch empirisch belegen. Döpfner zitiert Studien der Stiftung „Freedom House“. Nachdem bereits im Jahr 2009 ein Rückgang der Freiheit in 40 Ländern festgestellt wurde, konstatierte eine Studie der Stiftung für das Jahr 2010 in 25 weiteren Staaten massive Einschränkungen der Freiheit. Insgesamt wurden im Jahr 2010 nur noch 87 Länder als „frei“ klassifiziert, in denen 43 Prozent der Weltbevölkerung leben.
Auch in Deutschland schätzen immer mehr Menschen eher die Gleichheit als die Freiheit, wie eine seit dem Jahr 1976 durchgeführte Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach belegt. „Im ersten Jahr der Befragung war die Freiheit noch für 61 Prozent der Deutschen der wichtigste Begriff, die Gleichheit hingegen nur für 30 Prozent das erstrebenswerteste Gut. Im Jahr 2011 sind in den alten Bundesländern nur noch 49 Prozent für Freiheit und 35 Prozent für Gleichheit, in den neuen Bundesländern sogar nur 38 Prozent für Freiheit und 51 Prozent für Gleichheit.“ (S.46)
Die Freiheitsangst drücke sich in Deutschland auch als Angst vor dem Risiko aus. „Die Digitalisierung – ganz gefährlich. Die Gentechnik – viel zu riskant. Neue Flughäfen, neue Bahnhöfe – Risiko, Gefahr!, ruft der fortschrittsverzagte Wutbürger.“ (S.51) Kaum jemand möchte in Deutschland Unternehmer werden, weil dies als zu riskant gelte und weil unternehmerisches Scheitern in Deutschland eben – anders als in Amerika – nicht als selbstverständlicher Teil des Wirtschaftens akzeptiert werde (S.49).
Ein Kapitel seines Buches überschreibt der Autor mit „Exzess der Freiheit“ – hier geht es um die Finanzkrise und ihre Folgen. Die Überschrift hat mich irritiert. Warum Exzess der Freiheit? War die Finanzkrise wirklich – wie es überall behauptet wird – die Folge von zu wenig Regulierung, von zu viel Markt und mithin von zu viel Freiheit? In Wahrheit begann die Krise doch damit, dass der amerikanische Staat den Banken aus ideologisch-egalitären Gründen vorschrieb, Kredite für Immobilien auch an solche Menschen zu vergeben, die man bis dahin aus guten Gründen nicht für kreditwürdig gehalten hatte. Und sie begann damit, dass die amerikanische Zentralbank durch ihre Niedrigzinspolitik versuchte, selbst das Marktgeschehen zu bestimmen. Auch das erwähnt Döpfner. Warum aber dann „Exzess der Freiheit“? Staatliche Vorgaben und Eingriffe sind sicher kein Beleg für einen „Exzess der Freiheit“.
Einig bin ich mir mit Döpfner in seinen skeptischen Anmerkungen zu den Reaktionen der Politik auf die Finanz- und Eurokrise: „Wenn aus falsch verstandener Solidarität Länder und Unternehmen, die erfolglos gewirtschaftet haben, zum Nachteil ihrer erfolgreichen Nachbarn oder Konkurrenten gerettet, gefördert, subventioniert werden, verlängert dies das Leiden, lässt den Ehrgeiz erlahmen und führt im Ergebnis zwar kurzfristig zu einer gerechteren Verteilung der Armut, langfristig aber zum Kollaps von Initiative, Kreativität und Erfolg. Die Konsequenzen einer im neuen globalen Maßstab der Billionen und Trillionen angewandten Umverteilungsideologie wären fatal, vor allem unsozial.“ (S. 169f.)
Döpfner hat ein aufrüttelndes Buch geschrieben, das sich über weite Strecken wie ein liberales Manifest liest. Hier sind die Themen benannt, mit denen man auch junge Menschen begeistern kann, sicherlich mehr als mit den geplanten Steuersenkungen in homöopathischer Dosis. Ich bin sicher: Axel Springer würde sich freuen, dass heute jemand an der Spitze seines Unternehmens steht, dem die Freiheit ebenso wichtig ist wie sie ihm war.