Vor einigen Jahren drückte mir ein bekannter Investmentbanker von Morgan Stanley das Buch „Liar’s Poker“ des amerikanischen Wirtschaftsjournalisten Michael Lewis in die Hand. Ich solle das unbedingt lesen, wenn ich verstehen wolle, wie die amerikanische Finanzindustrie funktioniere. Vor zwei Jahren empfahl mir dann der Vorstand eines Immobilienunternehmens, ich solle unbedingt „The Big Short“ von Michael Lewis lesen, wenn ich die aktuelle Finanzkrise verstehen wolle (meine Besprechung dieses ausgezeichneten Buches finden Sie hier). Beide Bücher habe ich verschlungen und mit großem Gewinn gelesen.
Auch das neue Buch von Lewis hat mich beeindruckt, wenngleich es neben starken Passagen auch eine Reihe von sehr schwachen enthält. Der Autor beschreibt die Impressionen einer Erkundungsreise nach Europa, die er antrat, um das zu verstehen, was wir heute die Euro-Krise nennen. Seine Reise führt ihn nach Island, Griechenland, Irland und Deutschland. Und er ergänzt seine Eindrücke durch Berichte über amerikanische Kommunen, die so stark verschuldet sind, dass man sich an Griechenland erinnert fühlt.
Die Reiseeindrücke sind bewusst sehr subjektiv gehalten, und Lewis zögert nicht mit raschen und sehr pointierten Beschreibungen des Nationalcharakters der Isländer, Griechen, Iren und Deutschen. Dass das manchmal etwas daneben ist, merkt der Leser spätestens beim Kapitel über die Deutschen, für die besonders charakteristisch sei, dass sie so oft Worte wie „Scheiße“ benutzten. Vermutlich werden deutsche Leser über solche Charakterisierungen ebenso wenig glücklich sein wie die als einfältige und größenwahnsinnige Fischer charakterisierten Isländer. Dennoch enthält das Buch zugleich eine Fülle von Einsichten und Beschreibungen, die es dem Leser ermöglichen, ein wenig besser zu verstehen, was die Bankenkrise in Island, die Immobilien- und Bankenkrise in Irland oder den faktischen Staatsbankrott Griechenlands verursacht hat.
Lewis schildert auch den psychologischen Hintergrund, vor dem das enthusiastische und fatale Engagement deutscher Landesbanken in Subprime-Loans verständlich wird. „Clevere Händler an der Wall Street erfinden unfaire und teuflisch komplizierte Papiere und schicken ihre Händler in alle Welt los, um nach einem Deppen zu suchen, der sie kauft. In den letzten Jahren saß ein unverhältnismäßig großer Teil dieser Deppen in Deutschland.“ Doch war es nur Dummheit oder auch Eitelkeit? „Die deutschen Banker“, so zitiert Lewis einen Gewährsmann, „waren nie von einem Verkäufer der Wall Street verwöhnt worden. Und plötzlich zuckt jemand seine Kreditkarte und lädt sie zum Großen Preis von Monaco oder was weiß ich wohin… Die Landesbanken sind die langweiligsten Banken in Deutschland, niemand hatte sich je für diese Banker interessiert. Und plötzlich kommt dieser smarte Typ von Merrill Lynch daher und verhätschelt sie hinten und vorne. Die haben natürlich gedacht: ‚Oh, der mag mich’… Die amerikanischen Verkäufer sind einfach cleverer als die europäischen. Sie sind bessere Schauspieler.“ (S.183)
Lewis hat kein analytisches Buch geschrieben, aber seine Impressionen verraten viel über die Ursachen der Probleme. So beschreibt er die absurde griechische Staatswirtschaft: Das Landeswirtschaftsministerium beispielsweise hatte eine außerbilanzielle Abteilung mit 270 Mitarbeitern eingerichtet, um die Fotos von staatlichen Liegenschaften zu digitalisieren. Das Problem war nur, dass keiner der 270 Beschäftigten Erfahrung mit digitaler Fotografie hatte. Die Leute waren in Wirklichkeit zum Beispiel Friseur von Beruf. (S.69) Das Renteneintrittsalter für als „anstrengend“ eingestufte Berufe liegt in Griechenland für Männer bei 55 Jahren und für Frauen bei 50 Jahren. „Da der Staat dann mit der Auszahlung großzügiger Renten beginnt, haben es über 600 Berufe geschafft, in Griechenland als anstrengend qualifiziert zu werden: Friseure, Radiosprecher, Kellner, Musiker, und so weiter und so fort.“ (S.66)
Der Autor schont jedoch auch seine eigenen Landsleute nicht und entwirft im letzten Kapitel ein deprimierendes Bild über Kommunen in den USA, die wegen gigantischer Pensionsverpflichtungen für Beamte inzwischen pleite sind – so dass die pensionierten Feuerwehrleute und Polizisten sehr auskömmlich leben, aber kein Geld mehr da ist, aktive Feuerwehrleute und Polizisten zu bezahlen. In diesen Städten – das Musterbeispiel ist die Stadt Vallejo – dauert es nun wesentlich länger, bis ein Brand gelöscht wird und sicher ist man auch nicht mehr, weil es kaum noch aktive Polizisten gibt. „Vor leer stehenden Geschäften sprießt das Unkraut, sämtliche Ampeln sind auf Blinklicht gestellt, was eine reine Förmlichkeit darstellt, da es keine Polizisten zur Überwachung des Straßenverkehrs mehr gibt. Vallejo ist die einzige Stadt in der Bay Area, in der man sein Auto abstellen kann, wo man will, ohne einen Strafzettel befürchten zu müssen, weil es auch keine Politessen mehr gibt.“ (S.224)
Das Buch zeichnet das Schreckensbild von Ländern und Kommunen, die so lange auf Pump gelebt und sich auf Kosten der künftigen Generationen verschuldet haben, dass das System schließlich zusammenbricht. „Travels in the New Third World“ heißt denn auch der treffende Titel der amerikanischen Originalausgabe. Ein erdrückendes Buch, aus dem vielleicht mal in 100 Jahren zitiert wird, wenn in Geschichtsbüchern über die Endphase staatlicher Schuldensysteme berichtet wird. R.Z.