Große Bekanntheit erreichte das 2007 erschienene Buch „The Black Swan. The Impact of the High Improbable“ von Nicholas Taleb. Das Buch war international ein riesiger Erfolg, was jedoch meiner Meinung nach eher dem hervorragend gewählten Buchtitel (deutsch: Der schwarze Schwan) als dem Inhalt geschuldet war. Ich fand das Buch teilweise wirr und chaotisch geschrieben, aber der Titel traf im Jahr 2008 den Nerv der Menschen, als die weltweite Finanzkrise für viele Menschen überraschend und mit ungeheurer Wucht auftrat. Das war also ein „schwarzer Schwan“: Ein Ereignis, das die meisten Menschen für so extrem unwahrscheinlich hielten, dass sie es nicht ernsthaft auf dem Schirm hatten. Talebs richtige These war, dass solche schwarzen Schwäne häufiger vorkommen, als wir denken. „Schwarze Schwäne“, so Taleb, „werden nämlich dadurch verursacht und verschlimmert, dass sie unerwartet kommen“.
Das Buch von Casti, das ich hier vorstellen möchte, handelt ebenfalls von Extremereignissen, die wir alle nicht auf dem Schirm haben. Es ist jedoch keines der marktschreierischen Katastrophenbücher von Weltuntergangspropheten. Es ist ein wissenschaftliches Buch. Es handelt von Ereignissen, deren Eintrittswahrscheinlichkeit wir deshalb nicht voraussagen können, weil es keine historischen Daten gibt. „Die historischen Aufzeichnungen müssen so reichhaltig und umfassend sein, dass sie das Ereignis, dessen Wahrscheinlichkeit wir abschätzen wollen, mit einschließen. Und wenn das nicht der Fall ist? Wenn die historischen Aufzeichnungen zu kurz oder zu spärlich sind oder wenn sie einfach nichts enthalten, was dem Ereignis, das wir im Auge haben, auch nur entfernt ähnelt?“ (S. 20)
X-Events, wie sie in diesem Buch definiert werden, sind „schlicht so selten, dass wir nicht über genügend reichhaltige Daten zu früheren Maßnahmen und Verhaltensweisen verfügen, um daraus eine sinnvolle Wahrscheinlichkeit berechnen zu können“. (S. 30)
Das Buch gliedert sich in drei Teile. In Teil I untersucht der Autor den Zusammenhang zwischen der Komplexität und X-Events. Man merkt, dass der Autor hier eine Lieblingsthese entwickelt hat, deren Kerngedanke darin besteht, dass extrem komplexe Strukturen irgendwann in Widerspruch geraten zu weniger komplexen Systemen und dass sich diese Komplexitätslücke irgendwann in einem X-Event entlädt. Wem das zu theoretisch ist, sollte gleich mit dem Hauptteil, dem Teil II, beginnen.
Im zweiten Teil beschreibt der Autor elf X-Events, die alle eines gemeinsam haben: Auf einen Schlag ist unsere Welt nicht mehr so, wie wir sie kennen. Nicht jeder Leser wird jedes dieser Ereignisse als gleich „wahrscheinlich“ bzw. „unwahrscheinlich“ bewerten. In jedem Kapitel wird aber eine Fülle wissenschaftlicher Literatur verarbeitet, die sich mit den entsprechenden Szenarien befasst.
Am Erschreckendsten fand ich die folgenden X-Events:
- Ein plötzliches, weltweites umfangreiches bzw. totales Versagen des Internets. „Vom Online-Banking über E-Mail und E-Books bis zu iPads und iPods und weiter bis zur Versorgung mit Elektrizität, Nahrungsmitteln, Wasser, Luft, Verkehrsmitteln und Kommunikation ist jedes einzelne Element des Lebens, wie wir es heute in den Industrieländern kennen, entscheidend abhängig von den Kommunikationsfunktionen, die das Internet zur Verfügung stellt. Fällt es aus, geschieht mit unserer Lebensweise das Gleiche.“ (S. 89) Nichts funktioniert dann mehr. Private und geschäftliche Finanztransaktionen kommen zum Erliegen. Denn ganz gleich, ob wir mit Kreditkarte, Scheck oder Banküberweisung zahlen, das Geld wird heute über das Internet bewegt. (S. 108 ff.) Der Einzelhandel bricht ebenfalls zusammen, weil sich heute alle Einzelhandelsgeschäfte automatischer, internetbasierter Warenwirtschaftssysteme bedienen. Auch der Flugverkehr würde sofort zusammenbrechen, alle Flughäfen müssten geschlossen werden. Gleiches gilt für die Stromversorgung. „Mögliche Ausfälle des Internets lassen sich ganz grob in zwei Kategorien einteilen: erstens systemische Ausfälle, verursacht durch die konstruktionsbedingten Begrenzungen der Internetstruktur selbst und durch Belastungen wegen der expotentiell zunehmenden Menge des Datenverkehrs, die das System bewältigen soll, und zweitens durch gezielte Angriffe auf das System durch Hacker, Terroristen oder andere, die das Internet als Geisel für ihre Wünsche und Ziele nehmen.“ (S. 112) Erschreckend finde ich es deshalb, weil wir uns alle kaum darüber bewusst sind, dass wir uns in einem Zeitraum von nur etwa zwei Jahrzehnten zu 100% abhängig gemacht haben von einem System, das es noch gar nicht so lange gibt. Ironischerweise liegt bekanntlich der Ursprung des Internets in dem Versuch des US-Militärs, in Extremsituationen bzw. bei Kriegen unabhängig vom Funktionieren normaler Kommunikationssysteme zu werden. Letztere funktionieren heute wiederum nicht mehr ohne das Internet.
- Eine nukleare Katastrophe. „Eine wachsende Zahl regionaler und lokaler Konflikte, an denen Atommächte beteiligt sind, stark gestiegene Möglichkeiten für Nuklearunfälle in den vielen Ländern, die Atomwaffen sitzen oder an ihnen arbeiten und die ständige Gefahr, dass eine Terroristengruppe oder auch mehrere sich ‚fehlende’ Waffen beschaffen – das alles führt dazu, dass die Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls in relativ naher Zukunft sehr groß ist.“ (S. 229) Führt man sich die Fakten vor Augen, dann muss man leider dem Autor zustimmen, es sei eigentlich ziemlich erstaunlich, dass sich ein solcher Unfall oder eine solche von Terroristen ausgelöste Katastrophe noch nicht ereignet hätten.
- Eine globale Pandemie. Epidemien und Pandemien hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Die „spanische Grippe“ beispielsweise, die 1918/1919 grassierte, forderte etwa 100 Millionen Opfer. Anders als die Pest des Mittelalters, die über mehrere Jahrhunderte wütete, forderte die Spanische Grippe in nur sechs Monaten eine ähnliche Zahl von Menschenleben. Die Weltbevölkerung ist heute viermal so groß wie 1918 und durch die viel stärkere weltweite Vernetzung im Zeitalter der Globalisierung würde die gleiche Krankheit heute wohl mehr als 350 Millionen Menschen das Leben kosten. Wie schnell sich Krankheiten ausbreiten, zeigte eine Meldung, die über das letzte Wochenende bekannt wurde: Mit dem Virus der 2009 in Mexiko ausgebrochenen Schweinegrippe hat sich – so ergab eine aktuelle Analyse von 90.000 Blutproben – weltweit jeder vierte Mensch infiziert, ohne dass allerdings jeder Infizierte auch daran erkrankte. Man muss sich nur vorstellen, was geschehen wäre, wenn es sich hier um eine gefährlichere Krankheit gehandelt hätte.
Das sind nur drei von elf X-Events, die der Autor vorstellt. Manche davon wird ein Leser als bedrohlicher empfinden, andere als weniger bedrohlich bzw. extrem unwahrscheinlich. Warren Buffett hat einmal gesagt, was er von seinem Nachfolger erwarte: Dass dieser vor allem auch mit extrem unwahrscheinlichen Ereignissen rechne, an die kein Mensch sonst denke. Ich weiß nicht, ob er solche Ereignisse damit gemeint hat, obwohl bekannt ist, dass Buffett vor allem vor einer durch Unfälle ausgelösten nuklearen Katastrophe Angst hat.
Kann man sich gegen die X-Events wappnen? Gegen viele der hier beschriebenen Events kann man keine Gegenmaßnahmen treffen und sich auch nicht darauf vorbereiten.
Aber es gibt auch unterhalb dieser Extremereignisse Dinge, die wir alle für unwahrscheinlich halten, die sich jedoch durchaus ereignen können: So etwa eine durch Hedgefonds ausgelöste internationale Finanzkrise, ein Zusammenbrechen des Euro, eine unvermeidlich gewordene Währungsreform oder auch ein Ereignis wie in Frankreich, wo sehr gut verdienende Menschen faktisch enteignet werden, so dass mancher sogar bereit ist, nach Russland auszuwandern. Ich denke, Investoren sollten sich stärker, als sie dies normalerweise tun, mit solchen Extremereignissen befassen. Das Buch regt also an, jenseits der hier beschriebenen X-Events auch über Ereignisse nachzudenken, die außerhalb dessen liegen, was wir alle bisher erfahren haben. R.Z