Bei dem ersten Kapitel des Buches (über die Oberschicht), habe ich beim Lesen auf fast jeder Seite Fragezeichen markiert, beim Lesen des zweiten Kapitels (über die Unterschicht) dagegen Ausrufezeichen. Ich habe bisher kein Buch gelesen, in dem so sachkundig, überzeugend und kritisch über die deutsche Unterschicht berichtet wurde wie in diesem. Zudem ist das Buch des STERN-Reporters sehr gut geschrieben, so dass man es gerne liest.
Seine These: Die Oberschicht und die Unterschicht ruinieren unser Land. Die einen, indem sie bei den Steuern tricksen, die anderen, indem sie die sozialen Sicherungssysteme hemmungslos ausnutzen. Die Leidtragenden seien die Bürger der Mittelschicht, die das Leben der Ober- wie der Unterschicht durch ihre Steuerzahlungen finanzierten.
Um es vorweg zu sagen: Beim Lesen hatte ich den Eindruck, dass der Verfasser sich die Freiheit, trotz der Tabus „politischer Korrektheit“ unverblümt und kritisch über die Unterschicht zu schreiben, dadurch quasi erkauft, dass er mit markanten und schrillen Thesen gegen die Oberschicht und die „Reichen“ polemisiert, was ja leider bekanntlich im allgemeinen Meinungstrend liegt.
Eine seiner zentralen Thesen über die Unterschicht lautet: Das gemeinsame Merkmal dieser Schicht ist nicht finanzielle Armut, sondern mangelnde bzw. nicht vorhandene Bildung. „Die Lebenssituation der Unterschicht ist nicht auf Geldarmut zurückzuführen. Das Gegenteil ist richtig: Geldarmut ist nicht die Ursache der beschriebenen Verhaltensweisen, sondern ihre Folge. Das wahre Elend ist also Armut im Geiste, nicht die im Portemonnaie. Gegen diese Benachteiligung kann Geld nur wenig ausrichten. Die Unterschicht braucht keine höheren Transferzahlungen, sondern vor allem bessere Bildung.“ (S. 77 f.)
Seine provokante These „In Deutschland haben die Armen Geld genug“ (S. 78) ist gut belegt. In den 70er Jahren betrug der Lohnabstand der Transferempfänger noch etwa 40 Prozent zu den mittleren Lohngruppen. Heute ist er praktisch nicht mehr vorhanden. (S. 82) Die Regelsätze beim Arbeitslosengeld II liegen spürbar über dem Einkommen, das in unteren Lohngruppen erzielt werden kann. (S. 84)
„Über viele Jahrzehnte hat die Gesellschaft versucht, alle sozialen Probleme mit Geld zu lösen. Es ist der Reflex des deutschen Sozialstaates. Die Transferzahlungen an die Betroffenen wurden erhöht und erhöht… Auf die Erfolglosigkeit der Methode Geldverteilen antwortet der Sozialstaat mit: mehr Geld verteilen.“ (S. 84 f.) Weil die Diagnose falsch ist, ist jedoch auch die Therapie wirkungslos, so die These von Wüllenweber.
Armut sei nicht das charakteristische Kennzeichen der Unterschicht, sondern eine ganz bestimmte Lebensweise, die der Autor in ebenso überzeugender wie anschaulicher und erschreckender Weise charakterisiert. Die politisch korrekte These, dass die meisten Angehörigen der Unterschicht arbeiten wollten und trotz guten Willens keine Arbeit fänden, widerlegt er. Es fehle ja auch jeder Anreiz zur Arbeit, wie er am Beispiel eines Ehepaars zeigt, bei dem der Mann seit 13 und die Frau seit sieben Jahren arbeitslos sind. Alle staatlichen Zahlungen zusammengerechnet, kommen die beiden auf ein Haushaltsnettoeinkommen von nicht ganz 2000 Euro. „Mal ehrlich“, so der Langzeitarbeitslose, „So viel könnte ich doch nie verdienen, auf keinen Fall. Und die Anja erst recht nicht. Mensch, die sollen uns in Ruhe lassen.“ (S. 86) Mit „die“ meint er das Jobcenter, das ihm immer wieder mit Job- und Fortbildungsangeboten auf die Nerven gehe.
In der Unterschicht entstand eine ganz neue Lebensform, in der Erwerbsarbeit kaum noch eine Rolle spielt und in der das Erfahrungswissen und die Verhaltensweisen der Arbeitswelt verloren gingen, sodass sie nun nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden können. Eine Lebensform, „in der das Geld so selbstverständlich vom Amt kommt wie der Strom aus der Steckdose. In der trickreiches Taktieren in den Versorgungsämtern ökonomisch weitaus lohnender ist als ein Job.“ (S. 88)
Der Autor charakterisiert die extreme Verwahrlosung in der Unterschicht. Angehörige der Unterschicht seien sehr viel häufiger krank als andere Menschen, aber dies sei nicht das Ergebnis wirtschaftlicher Not, sondern einer bestimmten Lebensweise. „Der Grund ist also weniger bei den äußeren Bedingungen des Lebens zu finden, sondern beim Verhalten der Menschen: Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, ungesundes Essen, Bewegungsmangel … Mit Geld hat das alles nichts zu tun: Einen Monat rauchen ist teurer als der Monatsbeitrag selbst in einem exklusiven Fitnessstudio. Fast Food ist teurer als Selbstkochen. Alkohol ist teurer als selbst gepresster Orangensaft, die Presse mitgerechnet. Ungesundes Verhalten ist insgesamt teurer als gesundes.“ (S. 93) Auch statistisch ist belegt: Nach Eliminierung von Einkommens- und Altersunterschieden ist der Anteil von Männern und Frauen mit einer guten bzw. sehr guten Gesundheit in der höchsten im Vergleich zur niedrigsten Bildungsgruppe immer noch um das zwei bzw. 1,8fache erhöht.
Auch im Sexualleben der Unterschicht zeige sich oftmals eine Verrohung, wie der Autor anhand von erschreckenden Beispielen belegt. (S. 100-105). Schließlich widmet er sich dem Thema Kindererziehung, die in den Unterschichten oftmals gar nicht mehr stattfinde. Da helfen auch keine Angebote des Staates. „Die Forscher des DIW haben nachgewiesen, dass Eltern mit niedriger Bildung fast alle Angebote ausschlagen, die ihre Kinder fördern könnten – auch wenn sie nichts kosten: Kinderturnen, Musikerziehung für Kleinkinder, Babyschwimmen, all das findet weitgehend ohne die Unterschicht statt.“ (S.108)
Dass finanzielle Armut nicht die Hauptursache für die Verrohung in der Unterschicht ist, zeigt der Autor am Beispiel des Medienkonsums. „Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, die Welt des gedruckten Wortes, ist für die Unterschicht ein fremder, unbekannter Planet. Auf ihrem Planeten existieren nur flimmernde Medien … Hauptschüler verfügen über mehr Fernseher, erheblich mehr Flachbildfernseher, mehr DVD-Spieler und mehr Spielkonsolen als Gleichaltrige aus Realschule oder Gymnasium.“ (S. 111) Das Geld ist also auch hier nicht das Problem. Zehnjährige aus bildungsfernen Familien konsumieren acht Mal häufiger Filme oder Spiele, die nur für Erwachsene freigegeben sind, als Gleichaltrige aus bildungsnahen Familien. (S.112)
Mehr Geld für die Unterschicht werde das Problem in der Zukunft ebenso wenig lösen wie es dies in der Vergangenheit getan habe. Stattdessen fordert der Autor eine Kindergartenpflicht für alle – ähnlich wie die Schulpflicht -, wobei sich Kindergärten auf Bildung und Erziehung und nicht auf die bloße Aufbewahrung von Kindern fokussieren sollten. (S. 118 ff.)
Die Freiheit, all diese Dinge schonungslos und ohne Rücksicht auf politische Korrektheit beim Namen zu nennen, erkauft sich der Autor, indem er gleich im ersten Kapitel kräftig auf die Vermögenden einschlägt. Seine These: Das Vermögen der Geldelite sei nicht das Ergebnis von Arbeit, sondern von mühelosen Erträgen aus Kapitalanlagen, die zudem noch gering besteuert würden. „Das gewaltige Wachstum der großen Vermögen ist kein Resultat harter Arbeit. Die Reichen haben ihr Geld für sich arbeiten lassen. Es waren vor allem Gewinne aus Kapitalgeschäften, die ihren Kontostand in neue Dimensionen katapultierte. Geldvermehrung durch clevere Vermögensverwaltung ist jedoch kein Ergebnis von Leistung. Und wenn, dann allenfalls die der Wealth Manager.“ (S. 49)
Diese These ist unrichtig. Die meisten Menschen, die zu sehr viel Geld kommen, sind – wenn sie es nicht geerbt haben -, Unternehmer. Als Angestellter kann man nur in wenigen Ausnahmefällen, etwa als DAX-Vorstand, zu wirklichem Vermögen kommen. Vermögensverwaltung ist leider selten in der Lage, wirklichen Reichtum zu erzeugen, sondern – im besten Falle – nur dazu, diesen zu bewahren und bescheiden zu vermehren. Ich kenne viele Vermögensverwalter für Reiche und Superreiche, und alle bestätigen mir: Ihre Mandanten erwarten nicht, dadurch reich zu werden, sondern sie wollen durch eine konservative Anlagepolitik reich bleiben. Die Quelle des Reichtums ist jedoch in aller Regel das eigene Unternehmen.
Eine Ungerechtigkeit sieht der Autor darin, dass Kapitalerträge nur mit 25 Prozent, Arbeitseinkommen jedoch mit 45 Prozent versteuert werden. Das ist auch eine Parole, die man derzeit häufig von SPD, Grünen und Linken hören kann, die deshalb die Abgeltungssteuer erhöhen wollen. Es ist jedoch eine falsche Rechnung: Die Kapitalerträge, die ausgeschüttet werden, wurden ja schon vorher besteuert, nämlich auf der Unternehmensebene. Wenn ich mit meiner GmbH 100 Euro verdiene, bleibt mir nach Abzug der Körperschaftssteuer und der Abgeltungssteuer nicht mehr übrig als einem Arbeitnehmer oder ein Freiberufler, der mit dem Spitzensteuersatz belegt ist.
„Die typischen deutschen Reichen sind Anleger und Erben“, so die These des Autors. (S. 146). Wer die tatsächliche Performance vieler Familiy Offices und Vermögensverwaltungen für Reiche kennt, weiß, dass das nicht stimmt. Kein Wunder: Es ist schwieriger, eine Million Euro langfristig zu erhalten als eine Million zu verdienen. Das weiß jeder Reiche.
Oftmals wurden Vermögen durch die Vermögensverwaltung wieder vernichtet oder deutlich dezimiert, wie aktuell der Esch-Skandal von Oppenheim oder vor einigen Jahren der Fall Madoff zeigten. Opfer waren hier ausnahmslos die Reichen. Unternehmer, die in ihrem Geschäft gut sind, verstehen oft von Geldanlagen nichts, fallen auf Anlagebetrüger herein oder geben ihr Geld Vermögensverwaltern, die vor allem davon etwas verstehen, wie sie ihren eigenen Reichtum vermehren.
Sicher gibt es gute Vermögensverwalter für Reiche, aber die, die ich kenne, behaupten niemals, ihre Klienten reich zu machen, sondern sind stolz darauf, wenn sie deren Reichtum bei einer bescheidenen Rendite bewahren können. Schließlich ist auch die Eintrittshürde für diese Familiy Offices und Vermögensverwaltungen so hoch, dass nur derjenige Zugang hat, der schon reich ist. Und reich wurde er, sofern er sein Geld nicht geerbt hat, meist als Unternehmer.
Auch die angeblichen und auch in diesem Buch immer wieder gern zitierten Steuertricks der Reichen sind mehr Legende als Wahrheit. Sämtliche Steuersparmodelle wurden schon vor Jahren von der Politik unmöglich gemacht, zunächst durch die 1999 beschlossenen Paragrafen 2b und 2 Abs. 3 EStG (Mindestbesteuerung) und vor einigen Jahren dann endgültig durch § 15b EStG. Steuersparen durch Verlustzuweisungsfonds gibt es längst nicht mehr. Und übrigens sind dadurch meistens auch weniger die Anleger reich geworden, als die Initiatoren und die Vertriebe solcher Modelle. In den neuen Bundesländern und bei Medienfonds wurde mehr Geld von Vermögenden und Besserverdienern vernichtet als neues Vermögen erzeugt.
Die These des Autors vom mühelosen Einkommen der Geldelite, die durch Trickserei beim Finanzamt und geschickte Wealth-Manager reich geworden seien, kann also nicht überzeugen. Aber vielleicht hat der Autor diese Klischees auch nur deshalb bemüht, damit er seine – absolut überzeugenden und sehr gut belegten – Thesen über die Unterschicht formulieren konnte, ohne gleich von den Tabuwächtern der politischen Korrektheit ins Abseits gestellt zu werden. Denn für den durchschnittlichen Mittelschicht-Leser klingt die These, man selbst erarbeite den ganzen Reichtum, um das mühelose Wohlleben von Ober- und Unterschicht zu finanzieren, allzu eingängig und plausibel.
Wer das Buch mit Gewinn lesen möchte, sollte sich meiner Meinung nach auf zwei Kapitel konzentrieren: Kapitel 2 (die Unterschicht) sowie das ebenfalls extrem lesenswerte und aufrüttelnde Kapitel 4 über die „Hilfsindustrie“, die inzwischen zum größten Wirtschaftssektor der deutschen Volkswirtschaft herangewachsen ist. R.Z.