Der Titel des Buches „Die Grünen“ täuscht ein wenig. Das Buch des bekannten Meinungsforschers Manfred Güllner ist weit mehr als eine Abhandlung über eine Partei. Es handelt sich vielmehr um eine äußerst lesenswerte Kritik an gravierenden und auch gefährlichen Fehlentwicklungen der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten.
Güllners zentrale und sehr gut belegte These lautet, dass der Einfluss der grünen Bewegung in Deutschland – anders als in den meisten anderen Ländern – weit über das Maß hinausgeht, das ihr aufgrund der Wähleranteile eigentlich zukäme. „Ursprünglich originäre ‚grüne’ Themen – wie der Umwelt- und Klimaschutz, eine Umdeutung des Fortschritts-begriffs, die Diskreditierung von Mobilitätschancen durch Auto oder Flugzeug sowie von Groß-Technologien, die Lobpreisung von ‚Nachhaltigkeit’, Dezentralisierung oder von antiparlamentarischen Partizipationsformen etc. – beherrschen heute die öffentliche und politische Diskussion.“ (S. 10)
Eins der markantesten Beispiele für eine solche Übernahme von Zielen und Inhalten der grünen Minorität durch die anderen politischen Lager sei die abrupte Kehrtwende, die nach dem Reaktorunfall in Fukushima in der deutschen Energiepolitik vorgenommen wurde.
Güllner zeigt, wie unser Alltagsleben heute von der grünen Ideologie beherrscht wird, so etwa in der Verkehrspolitik. Die grüne Überzeugung, dass Autos an sich etwas Schlechtes und Fahrräder gut seien, durchzieht die Verkehrspolitik in großen und kleinen Städten. „Schöne Dorfstraßen wurden mit allen möglichen und unmöglichen Pollern, Betonbarrieren oder anderen Ungetümen in grausliche Areale verwandelt. Viele dieser zur ‚Verkehrsberuhigung’ eingeführten Zonen führten allerdings dazu, dass insgesamt mehr Verkehr erzeugt wurde… Flächendeckende Tempo-30-Zonen wurden und werden eingeführt, über deren Sinn oder Unsinn nicht mehr nachgedacht wird.“ (S. 107) Die grüne Utopie einer „Fahrradfahrerstadt“ wird zum Leitbild nicht nur der grünen Politik. „In Städten wie Berlin soll das Fahrrad flächendeckend das wichtigste Verkehrsmittel werden, auch wenn Fahrradfahren mit steigendem Lebensalter immer gefährlicher wird. Wieso die mit einer solchen Verkehrspolitik einhergehenden steigenden Unfallziffern für ältere Bürger als ‚soziale Verkehrspolitik’ deklariert werden, bleibt unerfindlich.“ (S. 109)
Auch in der Wohnungspolitik dominieren zunehmend grüne Vorstellungen von sogenannter „Nachhaltigkeit“. Obwohl das Dämmen von Gebäuden um jeden Preis – gerade im Altbaubestand – oft zu Schimmelbildungen mit gefährlichen Folgen für die Gesundheit führt, wird Wärmedämmung von der Politik zum probaten Mittel des „Klimaschutzes“ hochstilisiert.
Im Laufe der Zeit, so Güllner, wurden von anderen Parteien jedoch nicht nur viele einzelne, ursprünglich grüne Themen und Zielen, sondern auch generelle grüne Politikansätze übernommen. „Dazu gehören alle Formen von Plebisziten, wie Bürgerbegehren und Volksentscheide oder die verschiedensten Partizipationsangebote bei Planungs- und Entwicklungsmaßnahmen. Solche ‚partizipativen’ Elemente werden dabei häufig gefordert ohne zu prüfen, ob die gewünschten Formen und Möglichkeiten mehr direkter Beteiligung der Bürger auch wirklich angemessen und nützlich sind und auch den Interessen der Mehrheit der Bürger dienen oder ob damit nur Partikular-Interessen durchgesetzt werden sollen.“ (S. 119)
All diese Beispiele zeigten, wie sehr sich in Deutschland der „grüne Zeitgeist“ ausgebreitet habe. Dieser „grüne Zeitgeist“ bewirke nicht nur in der Politik falsche Weichenstellungen und Fehlentscheidungen (so etwa in der Energiepolitik), die bei der Mehrheit der Bürger eher zu Unverständnis führen. Er führe auch bei vielen Unternehmen immer häufiger zu verfehlten Einschätzungen der Befindlichkeiten der Menschen. Wenn z. B. E.ON seine Werbung darauf abstelle, dass man „der grünste Energieerzeuger der Welt“ sei, dann nehme das niemand dem Unternehmen ab. „Zur Imageverbesserung trägt das nicht bei, sondern dadurch schrumpft E.ON’s Glaubwürdigkeit weiter. Aber auch alle anderen Unternehmen, die glauben, mit ‚grünen’ Themen Vertrauen beim Verbraucher gewinnen oder gar ihren Absatz erhöhen zu können, sind eher auf dem Holzweg.“ (S. 120)
Doch wie kommt es, dass eine ganze Gesellschaft „ergrünt“, obwohl die Anhänger der Partei „Die Grünen“ nur eine Minorität der Gesellschaft darstellen? Die Antwort liegt Güllner zufolge in der sozialen Zusammensetzung der Mitglieder und Wähler der Grünen, die überwiegend der deutschen Bildungsschicht entstammen. „Kommunikative Fähigkeiten und ein missionarischer Drang zeichnen dieses Segment der deutschen Mittelschicht aus. Entsprechend geschickt artikulieren sich die Anhänger der grünen Bewegung von Anbeginn.“ (S. 122) Großen Einfluss hatten und haben die Grünen vor allem im öffentlichen Dienst (Lehrer, Beamte) und in den Medien. Bereits 2005 wurde in einer Untersuchung gezeigt, dass 36 Prozent der Journalisten den Grünen zuneigen – während nur neun Prozent mit der CDU/CSU sympathisieren. (S. 124) Fünfmal mehr Journalisten als Wahlberechtigte waren somit schon 2005 Sympathisanten der Grünen. Heute, acht Jahre später, dürfte der Einfluss der Grünen in Medien sogar noch erheblich gestiegen sein.
Auch im öffentlichen Dienst sympathisieren viele Beamte – vor allem im höheren Dienst – mit den Grünen. „Durch ihre administrativen Möglichkeiten verhelfen sie somit grünen Ideologien zur Realisierung – sei es in der Verkehrs-, Entsorgungs- oder in der Energiepolitik.“ (S. 127)
Charakteristisch für die Grünen sei auch, dass sie in ihrer Selbsteinschätzung nicht nur der festen Überzeugung seien, „gute“ Ziele zu verfolgen, sondern auch selbst „gute“ Menschen zu sein. „Eine sachliche Debatte mit ‚Gut-Menschen’ ist dementsprechend schwierig, zumal die Grünen wegen ihrer ‚guten’ Ziele und der diese guten Ziele verfolgenden ‚guten Menschen’ kaum kritisiert werden können, ohne als Kritiker selbst ins moralische Abseits zu gelangen.“ (S. 209) Der Wertepluralismus, der ein wichtiges Merkmal einer freiheitlichen Gesellschaft ist, wird von den Grünen nicht einmal toleriert. „Die Grünen akzeptieren bis heute weitgehend ihr eigenes, eher monolithisches Wertesystem, das sie in extrem intoleranter Weise für das einzig richtige und für sie verbindliche halten – im Übrigen nicht nur in der Politik, sondern in nahezu allen Lebensbereichen.“ (S. 29) Wer nicht im Bioladen, sondern bei Lidl einkauft, gehört nicht dazu. Der Rezensent möchte hinzufügen: Wer an der bevorstehenden „Klimakatastrophe“ zweifelt, wird für geistig nicht vollkommen zurechnungsfähig gehalten oder ihm wird unterstellt, perfide „ökonomische“ Interessen zu verfolgen und damit den ultimativen Klima-Gau zu befördern.
Güllner zeigt jedoch zu Recht auch auf, dass die Grünen nur deshalb einen so großen Einfluss in der Gesellschaft erringen konnten, weil die anderen Parteien ihnen keinen Widerstand entgegensetzten. Vielmehr versuchen sich heute alle Parteien als Protagonisten der „Nachhaltigkeit“ zu überbieten. Mit einem gewissen Zeitverzug haben zuerst die SPD und nunmehr auch CDU/CSU zunehmend grüne Positionen übernommen.
Dies wiederum, so der Meinungsforscher Güllner, habe dazu geführt, dass sich immer weniger Menschen von der Politik und den Politikern repräsentiert fühlten. Ein Indikator dafür sei die geringe Wahlbeteiligung, die in Deutschland in den letzten Jahrzehnten stärker zurückgegangen sei als in fast allen anderen Ländern der Welt. „Diese Übernahme zahlreicher grüner Vorstellungen durch die anderen Parteien führt dazu, dass weite Teile der Bevölkerung ihre Interessen und Probleme nicht mehr in der Politik vertreten sehen. Diese Teile der Bevölkerung reagieren mit Wahlenthaltung in immer größerem Umfang und mit Entfremdung von der Politik.“ (S. 171)
Ich habe das Buch mit großem Gewinn und größter Zustimmung gelesen. Ich kann dabei für mich in Anspruch nehmen, viele dieser Entwicklungen bereits in meinem 1995 (!) erschienenen Buch „Wohin treibt unsere Republik?“ vorhergesagt zu haben. Zum Beleg dafür, erlaube ich mir, aus meinem eigenen Buch zu zitieren: „Bei vielen Fragen ist es heute schon so, dass die Grünen die Richtung vorgeben, dann die SPD nachzieht und schließlich die Union mit einem deutlichen Verzögerungseffekt nachhinkt… Die Einwirkungen der grünen Partei gehen weit über ihre Beteiligung an Landesregierungen und die in Wahlen dokumentierten Erfolge hinaus. Entscheidender ist, dass es den Grünen immer wieder gelang, politische Themen zu besetzen und die Meinungsführerschaft in der öffentlichen Diskussion zu übernehmen. Dies konnte jedoch nur geschehen, weil sie überdurchschnittlich viele Sympathisanten in den Medien hatten und haben und weil die Reihen ihrer natürlichen Widersacher, also parteipolitisch gesehen die CDU, bereits innerlich aufgeweicht waren und maßgebende Politiker der Union entscheidende Positionen der Grünen schon übernommen hatten.“ Das hatte ich vor genau 18 Jahren in meinem Buch „Wohin treibt unsere Republik?“ (S. 80 f.) geschrieben – und es entspricht der These dieses überaus lesenswerten Buches von Manfred Güllner. R.Z.