Dies ist ein provokatives Buch, dessen Lektüre zum Nachdenken anregt. Um es vorweg zu nehmen: Der Autor bezweifelt nicht, dass es die Pflicht der Gemeinschaft ist, unverschuldet in Armut geratenen Alten, Kranken, geistig oder körperlich Behinderten, Kindern und Unmündigen zu helfen. In diesem Buch geht es nicht um diese Armen, sondern um die „Heerscharen von Armen, die sich mit eigener Anstrengung aus ihrer Armut befreien könnten und in den entwickelten Ländern von einer ganzen Hilfsindustrie umsorgt werden“. (S. 12)
Jeder weiß im Grunde genommen, dass es neben den unverschuldet in Armut geratenen Menschen auch viele gibt, die durchaus die Möglichkeit hätten, sich aus ihrer Situation zu befreien, die es aber nicht tun, weil sie es gelernt haben, sich im Wohlfahrtsstaat einzurichten und dessen Annehmlichkeiten zu nutzen. Jedoch wagt kaum jemand, dies auszusprechen und der Autor beklagt zu Recht, „dass beim Thema Armut die Betroffenen reflexartig von Selbstverschulden und Selbstverantwortung freigestellt werden“. (S. 113)
Der Satz „selbst schuld, dass du arm bist“ hört sich grausam und unmenschlich an – etwa so wie „selber schuld, dass du krank bist“. (S. 113) Doch Zeyer beschuldigt gar nicht die Armen, dass sie schuld seien an der Situation, sondern ein Gesellschaftssystem – nämlich den Wohlfahrtsstaat –, das eine völlig verfehlte Politik der Armutsbekämpfung verfolgt.
Die Zahl der – wirklich oder vermeintlich – „Armen“ in den entwickelten Ländern steigt, und dies trotz (oder gerade wegen) Milliardensummen, die von oben nach unten umverteilt werden. Nimmt man die einkommensschwächsten und die einkommensstärksten 20 Prozent der Bundesbürger, dann beträgt bei den untersten 20 Prozent der Bevölkerung die Transferleistung (also Hartz IV und andere staatliche Zahlungen) 45,7 Prozent ihres Nettoeinkommens. Bei den obersten 20 Prozent ist die Bilanz negativ, sie bekommen 17,3 Prozent ihres Einkommens abgezwackt. (S. 96)
In Deutschland ist eine ganze Helferindustrie entstanden – so etwa Verbände wie die Arbeiterwohlfahrt und die Caritas –, die insgesamt 1,5 Millionen Arbeitnehmer beschäftigen. Damit ist die Helferindustrie drei Mal so groß wie die gesamte deutsche Automobilindustrie. Alleine an Sach- und Personalkosten entstehen hier Umsätze zwischen 80 und 140 Mrd. Euro. jährlich, bezahlt überwiegend aus Steuermitteln. (S. 161)
Der Autor zeigt, dass diese Gelder zum großen Teil verpuffen. Von den 49 Mrd. Euro, die im Jahr 2010 staatlich für arme Empfänger ausgegeben wurden, kam weniger als die Hälfte bei den Betroffenen, also den Armen, an. (S. 53) Effizienz, Wirkung, Kosten und Nutzen usw. – also Begriffe, die im normalen Wirtschaftsleben selbstverständlich sind, verlieren ihre Bedeutung, wenn es um Armutsverwaltung geht. „Solche Fragen an die privaten Organisationen zu stellen, das wirkt für die, als ob jemand bei einer Trauerfeier laut und herzlich lachen würde.“ (S. 56) Tatsache ist jedoch, dass trotz der 1,5 Millionen Beschäftigten in der Sozialverwaltung die Armut in Deutschland, wie auch immer man sie messen mag, nicht ab- sondern sogar zunimmt.
Kaum jemand sei jedoch bereit, die logische Folgerung zu ziehen: Wenn die Vielzahl von Methoden, die angewendet werden, um Armut zu bekämpfen, überwiegend ineffizient, nutzlos und insgesamt sogar kontraproduktiv sind, dann sollte man diese Methoden insgesamt auf den Prüfstand stellen und nach Alternativen Ausschau halten. Zumal, und dies kommt noch hinzu, der Staat sich dies nicht weiter leisten kann.
Alle entwickelten Länder – Europäische Länder, die USA, Japan – sind bekanntlich bis über den Kopf verschuldet. Die Staatsschulden sind so hoch, dass sie niemals mehr zurückgezahlt werden können. Das Gros der Ausgaben erfolgt jedoch für den Sozialstaat. Das gilt übrigens keineswegs nur für Deutschland, sondern – anders als es die meisten Europäer vermuten würden – auch und gerade für die USA. Von den 3,65 Billionen USD des Budgets der US-Regierung entfallen insgesamt 62 Prozent auf Soziales, wogegen sogar die gigantischen Militär- und Sicherheitsausgaben mit 25 Prozent weit abfallen.
Die Politiker in den entwickelten Ländern gewinnen Wahlkämpfe mit ständig neuen Ideen, wie man Geld umverteilen könne, das gar nicht vorhanden ist, sondern für dessen Bereitstellung sich der Staat immer weiter verschulden muss. Dies geschieht auf Kosten künftiger Generationen und auch auf Kosten der an sich dringend erforderlichen Investitionen, insbesondere in die Infrastruktur. Denn trotz allem Politikergerede über so genannte Nachhaltigkeit, werden gerade in Deutschland seit vielen Jahren, die dringend erforderlichen Investitionen in die Infrastruktur sträflich vernachlässigt, weil man das Geld lieber für soziale Wohltaten ausgibt.
Zeyer beklagt zu Recht, dass eine offene Debatte über die Wirksamkeit dieser Politik der „Armutsbekämpfung“ nicht möglich ist. „Wer Sinn und Zweck, die selbstverständliche Notwendigkeit, die Verpflichtung der Allgemeinheit bezweifelt, dass allen Armen geholfen werden muss, der soll außerhalb des zulässigen Diskurses gestellt werden. Er weigere sich, die Solidarität einer Gemeinschaft, die sich im Sozialstaat äußert, als unbezweifelbare Setzung zu akzeptieren, und das sei unakzeptabel.“ (S. 13).
Die Diskussion wird dominiert von schön klingenden Phrasen wie etwa: „In einer gerechten Gesellschaft darf es keine Armut geben.“ Wer wollte einem solchen Satz widersprechen? Aber wenn man genauer nachdenkt, ergeben sich Fragen: Was ist denn eine „gerechte“ Gesellschaft? Unausgesprochen ist damit eine „gleiche“ Gesellschaft gemeint. Und der Begriff „arm“ wird in einer Weise definiert, dass selbst in einer Gesellschaft, der es immer besser geht, die Zahl der Armen mit mathematischer Logik steigen MUSS. Denn in entwickelten Ländern wird von relativer Armut gesprochen. Arm bzw. armutsgefährdet ist demnach jeder, dessen Einkommen weniger als 60% des Medians beträgt. Das widersinnige Ergebnis einer solchen Armutsdefinition ist: Je höher das Durchschnittseinkommen steigt, umso mehr Arme gibt es. „Da es immer und trotz aller staatlichen oder gesellschaftlichen Anstrengungen einen Prozentsatz der Bevölkerung geben wird, der weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verdient, wird es somit immer Arme geben.“ (S. 20)
Der Autor setzt sich auch mit Alternativen zur Armutsbekämpfung auseinander. Das Wichtigste sei es, mehr in Bildung zu investieren – wobei zunächst einmal das Erlernen elementarer Fähigkeiten im Rechnen und Schreiben gemeint ist. Allein in Deutschland gibt es, man sollte es nicht glauben, 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Nimmt man fehlerhaftes Schreiben von gebräuchlichen Wörtern hinzu, dann sind es bereits 21 Millionen Menschen oder knapp 40 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland. (S. 169) Wer jedoch nicht einmal richtig schreiben kann und die Grundrechenarten nicht richtig beherrscht, hat in der Regel eben auch keine Chance, einen vernünftig bezahlten Job zu bekommen.
Ich möchte hinzufügen: Das Problem wird sich verschärfen und verschärft sich immer mehr, weil die wenig qualifizierten Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern zunehmend in direkte Konkurrenz zu den Arbeitern in Ländern wie China, Indien, Brasilien oder Vietnam geraten – oder aber durch Maschinen und moderne Technologie ersetzt werden. Dies ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den entwickelten Ländern immer weiter auseinander geht, ja immer weiter auseinander gehen muss. Ist es – im globalen Maßstab gesehen – wirklich „ungerecht“, wenn die Stelle eines wenig gebildeten Menschen in Deutschland wegfällt und dafür mehrere neue Stellen in Indien geschaffen werden?
Zusammenfassend: Die Strategien der Armutsbekämpfung mit gigantischen Umverteilungssystemen sind gescheitert. Die Finanzierung auf Pump, also durch immer höhere Staatsschulden, ist an ihre Grenzen gekommen und nicht dauerhaft so fortsetzbar. Schon heute leidet die Gesellschaft darunter, dass dringend erforderliche Investitionen für die Infrastruktur unterbleiben, weil stattdessen Abermilliarden für „soziale“ Zwecke ausgegeben werden. Damit verlieren jedoch die Menschen, die in den Genuss dieser Leistungen kommen, den Anreiz, selbst etwas zu tun, um aus ihrer Situation herauszukommen. Profitieren wird davon immer nur ein gigantischer Industriezweig, nämlich die „Armutsindustrie“.
Es ist ein aufrüttelndes Buch, dem man nur wünschen kann, dass es rege Debatten auslöst und nicht einfach totgeschwiegen wird. Der Autor ist ein Publizist aus der Schweiz, war Auslandskorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Havanna und schreibt heute für Medien wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, „Stern“ oder die „Weltwoche“ aus der Schweiz. R.Z.