Das erste Mal habe ich Boris Nikolai Konrad beim BEOS Forum weiter denken 2014 gesehen. Ich war so beeindruckt, dass ich mir das Buch noch am gleichen Tag bestellte. Vor der Veranstaltung und in der Pause fragte der Weltmeister im Namenmerken etwa 50 Personen nach ihrem Namen. Obwohl er den Namen nur ein einziges Mal gehört hatte, konnte er sich einige Stunden später noch an fast alle Namen – mit zwei Ausnahmen – erinnern. Das beeindruckte mich sehr. Denn während ich mir Zahlen oder abstrakte Theorien sehr leicht merke, ärgere ich mich immer wieder darüber, dass ich Namen und Gesichter von Menschen nicht richtig zuordnen kann.
In dem Buch erfuhr ich, dass Konrad es bei einer Meisterschaft geschafft hatte, sich 195 Namen richtig zu merken und keinen einzigen zu vergessen. Und das, nachdem er sich die Fotos dieser Menschen mit darunter stehenden Namen nur 15 Minuten angeschaut hatte (S. 33 f.).
Ich hatte mich vorher noch niemals mit Gedächtnismeisterschaften bzw. Gedächtnissport befasst, und die Sendungen, die dazu offenbar bei RTL liefen, habe ich nie gesehen. Ich muss auch zugeben, dass mir die Sache mit dem Gedächtnissport bis zur Lektüre des Buches ziemlich nutzlos vorkam und ich eher etwas mitleidig auf Menschen herabblickte, deren außergewöhnliche Fähigkeiten allenfalls beim Lösen von Kreuzworträtseln nützlich sein konnten, was in meinen Augen wiederum eine der blödsinnigsten Beschäftigungen ist.
Über das Lösen von Kreuzworträtseln denke ich immer noch so, aber meine Einstellung zum Thema „Gedächtnistraining“ hat sich nach der Lektüre dieses Buches auf jeden Fall geändert.
Im ersten Teil berichtet Konrad von der Szene der Gedächtnissportler, ihren Meisterschaften sowie der wissenschaftlichen Gedächtnisforschung, mit der er sich heute beschäftigt. Bis zur Lektüre des Buches dachte ich, manche Menschen seien eben mit einem „fotografischen Gedächtnis“ geboren und deshalb falle es ihnen leicht, sich endlose Zahlenkolonnen oder Namen zu merken. Das Wichtigste, was ich in diesem Buch gelernt habe: Ein fotografisches Gedächtnis gibt es gar nicht (S. 89 ff.) und die erstaunlichen Fähigkeiten, die Gedächtnissportler zeigen, sind Ergebnisse von langjährigem, systematischem Training.
Bislang gab es kaum Studien, die sich mit außergewöhnlichen Gedächtnisleistungen befassten. Im Gegensatz dazu gibt es eine geradezu endlose Flut von Studien über Menschen, die ihr Gedächtnis ganz oder teilweise verloren haben, beispielsweise über Alzheimer und andere Demenzerkrankungen.
Alle auffällig guten Gedächtnisleistungen, so der Autor, beruhen gemäß der Skilled Memory Theory ausschließlich auf drei Prinzipien (S.86):
- sinnvolle Endkodierung, zum Beispiel über Bilder
- effektive Abrufstrukturen, zum Beispiel durch die Routenmethode
- schneller werden durch Training.
Unter Enkodierung versteht man die Aufnahme von Informationen im Gedächtnis. Dabei sollten die Inhalte nicht „einfach so“ aufgenommen werden, sondern schon beim Lernen in einer Form „verpackt“ werden, die für unser Gehirn besser zu verarbeiten und abzuspeichern ist. Abrufstrukturen sind Elemente im Langzeitgedächtnis, mit denen die neu aufgenommenen Inhalte verknüpft und über die sie hinterher abgerufen werden können. „Gedächtnissportler“, so Konrad, „sind demnach Experten in Abrufstrukturen. Durch ihr Training haben sie diese im Langzeitgedächtnis angelegt.“ (S. 87)
Gedächtnistechniken basieren auf der Erkenntnis, dass sich das Gehirn Bilder deutlich besser merken kann als sprachliche Informationen. Dies ist durch zahlreiche Forschungen belegt. Anstatt sich Inhalte direkt zu merken, werden diese von Gedächtnissportlern in „Bilder“ umgewandelt, worunter man auch ganze Szenen wie in einem Kinofilm versteht (S. 104 f.).
Ein Beispiel für eine wirksame Methode der Gedächtnissportler ist die Schlüsselwortmethode, die beispielsweise auch beim Lernen von Vokabeln helfen kann. Dabei wird ein Wort mit einem oder mehreren Bildern verbunden, wobei diese keineswegs einen Sinn ergeben müssen, sondern sogar durchaus absurd und verrückt klingen dürfen. Dann kann man sie sich leichter merken (S. 125 f.).
Ein Beispiel: Kapital- oder Aktiengesellschaft heißt im Englischen joint-stock company. Mir fiel dazu spontan ein Joint ein, der auf einem Stock steht. Sicher ein absurdes Bild, das sich so jedoch leicht einprägt.
Wort und Bild müssen jedoch nicht unbedingt so gut zusammen passen, wie in diesem Beispiel. Es genügt, wenn eine bestimmte Assoziation ausgelöst wird. Zum Beispiel heißt „Beschwerde“ in Englisch „grievance“. Ich konnte mir das Wort nie so gut merken, bis ich diese Methode anwandte: Ich erinnerte mich, dass ich mich in einem wunderschönen Ressort in Bali nur über einen einzigen Punkt „beschweren“ musste, dass nämlich manchmal nicht genügend Grapefruits für meinen Grapefruitsaft vorhanden waren. „Grapefruit“ war für mich die Eselsbrücke zu „grievance“ und nun konnte ich mir das Wort einfach merken, wenn ich bei „Beschwerde“ an die Szene mit der Grapefruit dachte.
Bei einer Studie wussten jene Teilnehmer, die mit der Schlüsselwortmethode gelernt hatten, bei der Abfrage 72% der Vokabeln, die Personen aus der Kontrollgruppe nur 46% (S. 126). Da man jedoch bei dieser Methode lange an einem Wort hängen bleibt, empfiehlt der Autor, man solle sich nicht zwanghaft für jedes Wort ein Bild suchen. „Wenn Sie aber merken, dass Sie die Übersetzung von einem Wort schon zweimal vergessen haben, dann denken Sie sich ein Merkbild aus!“ (S. 128)
Fast alle Gedächtnissportler arbeiten mit der sogenannten „Routenmethode“. Es geht dabei um Wege und Wegpunkte, die das Gedächtnis stützen sollen. Man merkt sich einen Weg (z.B. in seiner Wohnung oder den Weg zur Arbeit) und markiert ihn mit bestimmten Punkten (in der Regel sollten es nicht mehr als 50 sein). An diesen Punkten passieren Dinge, die durchaus skurril („merkwürdig“) sein dürfen, denn diese prägen sich am besten ein. Die Bilder dienen als „Eselsbrücke“, um sich bestimmte Begriffe zu merken.
„Die allererste Route im Haus meiner Eltern, die ich mir je ausgedacht hatte, habe ich nicht nur in der Fernsehsendung zehn Jahre danach wieder benutzt, sondern innerhalb dieses Zeitraums mindestens 500 Mal mit neuen Bildern belegt. Dadurch wurde sie von Mal zu Mal besser, da ich die Routenpunkte inzwischen nahezu perfekt visualisieren und in nur zehn Sekunden alle 50 Punkte gedanklich ablaufen kann.“ (S. 147). Die Route, die ich mir ausgedacht habe, sind die Stationen meiner vier Trainingstage im Sportstudio, denn die kann ich mir am leichtesten merken und dann mit Bildern verbinden.
Auch beim Namenmerken ist das Denken in Bildern entscheidend. Hier die Schritte zur Verbesserung der Merkfähigkeit für Namen:
- Zunächst ist es natürlich erforderlich, den Namen gut zu verstehen. Nach dem ersten Nennen des Namens nachzufragen, ist nicht unhöflich, sondern wirkt interessiert.
- Hat man den Namen verstanden, sollte man ihn wiederholen („Hallo Frau Steinke“) und im Gespräch manchmal einfließen lassen.
- Danach muss der Name mit einem Bild verbunden werden. Das kann durchaus nach dem Gespräch stattfinden. Dazu bietet sich an, dass man den Namen mit einer Tätigkeit verbindet, z.B. mit dem Beruf. Aber nicht mit dem Beruf, den die Person ausübt, sondern mit dem Beruf, der in dem Namen steckt (die ersten 14 Plätze der aktuellen Rangliste der häufigsten Nachnamen in Deutschland werden von Berufsbezeichnungen belegt, wie Müller, Schmidt usw.)
- Es hilft, das Gesicht der Person mit dem Namen zu verbinden, wenn man sich vorstellt, dass die Person etwas tut, das mit ihrem Namen zusammenhängt (Herr Bauer fährt auf einem Traktor, auch wenn er gar kein Bauer ist, Frau Steinke hebt einen schweren Stein usw.)
Was der Autor nicht explizit erwähnt, was für mich persönlich jedoch die wichtigste Erkenntnis nach der Lektüre des Buches war: Ich muss meine innere Einstellung zum Auswendiglernen korrigieren. Bislang habe ich auf Menschen, die viel auswendig gelernt haben, stets ein wenig herabgeschaut: „Ach, der versteht die Zusammenhänge gar nicht, der lernt nur primitiv Dinge auswendig, ohne sie zu begreifen.“ In der Tat: Was nützt es, wenn ich mir mit Gedächtnistraining die Namen aller deutschen Bundeskanzler in der richtigen Reihenfolge merken kann, ohne jedoch etwas darüber zu wissen, wer sie waren, für welche Politik sie standen, was sie verändert haben (oder auch nicht).
Ich habe mir stets sehr leicht Dinge merken können, wenn ich mich mit ihnen beschäftigt und sie verstanden habe – ohne auswendig zu lernen. Aber es gibt natürlich Felder, auf die das nicht zutrifft, so etwa das Erlernen einer Fremdsprache. Hier kommt man ohne das Auswendiglernen eben nicht weiter.
Ich habe mir eine Stelle in dem Buch angestrichen, die mir wichtig ist: „Im Laufe des 20. Jahrhunderts setzte in der Pädagogik ein Umdenken ein. So wurde Auswendiglernen plötzlich tabuisiert. ‚Wir wollen nicht mehr Wissen erwerben, sondern Fähigkeiten.‘ Das faktische Wissen ist ja nachschlagbar, dank Wikipedia heute mehr denn je. Meiner Meinung nach wurde dabei allerdings massiv übertrieben… Mein Verständnis von Sachverhalten wird immer dann detaillierter sein, wenn dazu auch Informationen im Gedächtnis vorhanden sind.“ (S. 113)
Die Folgerung für mich hieß: Ich werde mir niemals gut Namen und Vokabeln merken können, wenn ich meine innere, negative und herablassende Einstellung zum „Auswendiglernen“ nicht ändere. Das war eine der wichtigsten Erkenntnisse für mich bei der Lektüre dieses hochinteressanten und sehr lesenswerten Buches. R.Z.