Als ich den Buchtitel in einer Bücherei sah, habe ich mich gleich gefreut: „Endlich!“ Denn ich kann das Gerede von der „Work-Life-Balance“ schon lange nicht mehr hören. Ich gebe zu, ich bin allergisch gegen alle Worte und Begriffe, die man vor zehn Jahren noch gar nicht gehört hat und vor denen man sich heute nicht mehr retten kann. Dazu gehört – neben meinem Lieblingswort „Nachhaltigkeit“ – zweifelsohne auch die sogenannte Work-Life-Balance.
Dem Autor geht die Sache mit der Work-Life-Balance offenbar genauso auf die Nerven wie mir: „‚Work-Life-Balance‘, so lautet die Losung der Stunde. Schluss mit der Maloche, mit Arbeitswut und protestantischer Askese: Der Job ist nicht alles. Wir müssen das Leben vor der Arbeit retten, unsere Seelen vor dem Burnout. So ist die Stimmungslage, der man sich kaum noch entziehen kann: Workaholics sind von gestern. Bloß nicht Arbeit und Freizeit vermischen. Gerne zeichnet man das Bild vom Hamsterrad, in das uns die kapitalistische Profitgier zwingt.“ (S. 13)
Der Autor führt dagegen Tatsachen ins Feld, z.B.
- Heute arbeiten Menschen weniger als je zuvor („und doch jammern sie darüber, dass sie kaum noch zum Leben kommen“).
- Einst standen die Arbeiter zwölf Stunden und länger in der Fabrik, mit krummem Rücken und wunden Füßen („heute fühlen wir uns überfordert, weil wir zu viele Mails beantworten müssen“).
- In vielfacher Hinsicht war Arbeit noch nie so gut wie heute („und doch scheint es uns, als wäre sie schlimmer und trostloser denn je.“)
Die Formel von der Work-Life-Balance führe in die Irre, denn dahinter stehe die konfuse Vorstellung, „Arbeit“ und „Leben“ wären verschiedene Dinge. „Arbeit gehört zum Leben. Das ist eine Tatsache, ob sie uns passt oder nicht. Ohne zu leben, könnten wir gar nicht arbeiten. Also kann es auch keine ‚Balance‘ geben, keinen Ausgleich zwischen Leben und Arbeit.“ (S. 16)
Die Formel von der Work-Life-Balance stehe für eine Lebenshaltung, die sagt: Arbeit macht krank. Oder zumindest doch: Das gute, das wahre, das eigentliche Leben, findet außerhalb der Arbeit statt. „Nach Feierabend sind wir die, die wir wirklich sind.“ (S. 16)
Der Autor zeigt, dass es umgekehrt ist. Er berichtet von der klassischen Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“, einem Pionierwerk der modernen empirischen Sozialforschung. Die Studie spielt in einem Ort Ende der 20er Jahre, in dem die meisten Menschen arbeitslos sind. Zwischen Aufstehen, Essen und Schlafengehen gibt es kaum noch Ereignisse, im Leben der Arbeitslosen passiert nichts mehr. Die Beobachtungen der Soziologen sind bedrückend: „Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen; sie lehnen an der Hauswand, am Geländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts muss mehr schnell gehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen.“ (S. 57 f.) Man kann sich vorstellen, wie es jenen jungen Arbeitslosen in Griechenland, Spanien oder Portugal heute geht, die wegen der verstaubten Arbeitsgesetzgebung in diesen Ländern dieses Schicksal heute teilen müssen.
Ja, so räumt der Autor ein: Auch ein Job kann unglücklich machen. Aber Freizeit – je mehr, desto besser – macht keineswegs automatisch glücklich. Am unglücklichsten sind meist jene, die gar keine Arbeit haben (S. 25). Work-Life-Balance als Luxusthema einer Gesellschaft, der es zu gut geht?
Für die meisten Menschen ist Arbeit keineswegs nur ein Mittel zum Zweck, um Geld zu verdienen. Arbeit ist eine komplexe Lebensform, sie schafft Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, Arbeit stiftet Sinn und Identität. „Auf die Frage ‚Was machst du?‘ antworten wir in der Regel nicht, indem wir sagen, dass wir gerne Sport treiben oder Bücher lesen. Vielmehr verstehen wir es so, dass der andere wissen will, welchen Beruf wir ausüben…. Nicht zufällig definieren wir uns also häufig über unsere Arbeit.“ (S. 130).
Wer sich mit Menschen über ihren Beruf unterhält, kann ihre Motive, Probleme, Ärger usw. besser verstehen – er kann die Menschen besser verstehen. „‚Work‘ gegen ‚Life‘, Mittel gegen Zweck, Arbeit gegen Muße: Das sind die Gegensätze, die unser Verhältnis zur Arbeit immer noch bestimmen. Wir machen uns Sorgen, dass der Job unser Leben auffrisst. Dass uns die Arbeit versklavt – und uns die Muße fehlt für die wirklich wichtigen Dinge. Ich halte alle drei Gegensätze für falsch. Weder sollten wir die Arbeit gegen das Leben ausspielen noch sie auf ein Mittel zum Zweck reduzieren. Und sie steht auch in keinem Gegensatz zur Muße.“ (S. 75)
Nun gut, so werden manche Leser einwenden. Dagegen kann man gar nichts sagen. Aber sind wir nicht heute alle überfordert, ist beispielsweise „Burn-out“ nicht eine große Gefahr? Eine der Paradoxien des heutigen Arbeitslebens, so der Autor, besteht darin, dass Arbeitsunzufriedenheit und seelische Leiden zunehmen, obwohl sich noch nie so viele Psychologen um das Seelenleben der Beschäftigten gekümmert haben. Es gibt Mitarbeiterbefragungen, Trainings und Seminare. Allein zum Thema „Arbeitszufriedenheit“ existieren inzwischen über 10.000 (!) Studien (S. 187). Ich möchte hinzufügen: Die SPD plant sogar ein Anti-Stress-Gesetz, das die Work-Life-Balance überwacht und staatlich reguliert, indem z.B. genau festgelegt wird, bis um welche Uhrzeit der Chef seinen Angestellten eine Mail schicken darf…
Die Begründung für diesen Unsinn: Arbeitspsychologen sagen, dass die Krankheitstage wegen psychischer Störungen gravierend zunehmen (allein 2012 sollen es 53 Mio. Krankheitstage gewesen sein), jeder Fünfte fühle sich am Arbeitsplatz „überfordert“, die Hälfte klage über hohen Termin- und Leistungsdruck (S. 188f.)
Auf der anderen Seite, auch dies zeigte der „Stressreport 2012“: 90 Prozent der Befragten berichten von einer guten Zusammenarbeit mit Kollegen, 80 Prozent fühlen sich am Arbeitsplatz als Teil einer Gemeinschaft, 60 Prozent bekommen Unterstützung von ihren direkten Vorgesetzten. Und rund zwei Drittel der abhängig Beschäftigten gaben an, sie könnten ihre Arbeit selbst planen und einteilen, immerhin jeder Dritte hat sogar Einfluss auf die Arbeitsgestaltung (S. 189).
Ob Arbeit wirklich krank macht, ist gar nicht gesichert. Die Kernfrage der Burnout-Forschung, ob nämlich die Art der Arbeit einen stärkeren Einfluss als die individuelle Persönlichkeit hat oder umgekehrt, sei bis heute nicht beantwortet. So können Burnout-Theorien, die ausschließlich auf die Arbeitsbedingungen fixiert sind, nicht erklären, warum von zwei Kollegen in derselben Arbeitseinheit, die unter genau gleichen Bedingungen arbeiten, der eine ausbrennt und der andere nicht (S. 195).
Man solle Freizeit und Arbeit nicht gegeneinander ausspielen, so das Plädoyer des Autors. „Vielmehr brauchen wir Arbeit, die in sich selbst so herausfordernd und erfüllend ist, dass wir uns nicht nach mehr Freizeit sehnen müssen. Und wir brauchen ‚Freizeit‘, die unser Leben tatsächlich besser macht, statt uns mehr zu stressen oder zu langweilen als die Arbeit selbst.“ (S. 230).
Der Autor plädiert für eine „gute Arbeit“, wobei der Begriff etwas schwammig bleibt. Was soll man darunter verstehen? Der liebe Gott hat die Menschen zum Glück verschieden gemacht, und was der eine unter „guter Arbeit“ versteht, wäre für den anderen schrecklich. Wollen Sie im Vertrieb arbeiten? Ich finde das toll, aber die meisten Menschen nicht. Wollen Sie Buchhalter sein? Meine Buchhalterin mag ihren Job, aber für viele Menschen wäre das eine Qual. Wollen Sie Gewerkschaftsfunktionär sein? Für mich wäre das die schlimmste Strafe, andere finden darin ihre Erfüllung. Und so ist es nicht nur mit den Berufen, sondern auch damit, was Menschen als „gute Arbeit“ empfinden.
Mein wichtigster Einwand gegen die Utopie der „guten Arbeit“ ist jedoch: Es wird immer auch langweilige, primitive Arbeiten geben, an die man sich zwar gewöhnen kann, aber die bestimmt nicht den Grad von Lebenserfüllung bringen wie beispielsweise die tolle Arbeit des Verfassers dieses Buches, der Chefredakteur einer Philosophiezeitschrift ist.
Aber auch die stupide Arbeit muss nun einmal getan werden. Es kann nicht jeder Mercedes fahren und es kann auch nicht jeder im Villenviertel wohnen, auch wenn er es gerne würde. Ich gebe zu, dass ich ganz generell etwas skeptisch gegen gesellschaftliche Utopien bin, auch wenn das – wie in diesem Buch – die Utopie der „guten Arbeit für alle“ ist. Ich finde: Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich, und wer es möchte, kann seine eigene Utopie der „guten Arbeit“ vielleicht verwirklichen. Und, da bin ich mir wieder mit dem Autor einig: „Wer immer nur unglücklich im Job ist, kann nicht nur seinen Arbeitgeber oder das ‚System‘ dafür verantwortlich machen. Er ist auch ein Stück weit selber schuld.“ (S. 28)
Übrigens möchte ich der Herstellung des Verlages ein Kompliment machen: Ich hatte schon lange kein Buch mehr in der Hand, das so toll gebunden und hergestellt ist. Man fühlt geradezu, dass derjenige, der es gemacht hat, seine Arbeit wirklich liebt und sich hoffentlich über Work-Life-Balance keine Gedanken machen muss.
Ich denke, meinem Vater würde das Buch gefallen. Er wird bald 86, steht jeden Morgen um fünf Uhr auf und fängt an, zu arbeiten. Ich denke, er arbeitet bestimmt nicht weniger als 80 bis 100 Stunden die Woche, und das schon seit vielen, vielen Jahren. Und zwar mit größter Freude und Begeisterung. Vor wenigen Tagen hat er eine 1000 Seiten umfassende Biografie über den Astronom Keppler zu Ende gebracht, für die er fünf Jahre lang in historischen Internet-Archiven und in Bibliotheken recherchiert hat. Als ich ihn kurz vor Weihnachten sah, erzählte er mir von seinen nächsten drei Buchprojekten. Ich weiß nicht, ob er sich jemals mit „Work-Life-Balance“ beschäftigt hat. Ich glaube, eher nicht. R.Z.