Sogenannte „Heuristiken“ – also mentale Abkürzungen oder Daumenregeln, die Menschen verwenden, um Entscheidungen zu treffen – sind keineswegs immer unsinnig und müssen der mathematisch korrekten Problemlösungsstrategie (also unter Berücksichtigung von Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Logik) keineswegs stets unterlegen sein, so eine zentrale These von Gerd Gigerenzer. Er betont die Bedeutung der „Intelligenz des Unbewussten“, die darin liege, „dass es, ohne zu denken, weiß, welche Regel in welcher Situation vermutlich funktioniert“ (S. 27). Es sei ein Irrtum, anzunehmen, Intelligenz sei zwangsläufig bewusst und hänge nur mit Überlegung zusammen. Ein Beispiel: Muttersprachler seien augenblicklich in der Lage, anzugeben, ob ein Satz grammatisch korrekt sei oder nicht, aber nur wenige könnten die zugrunde liegenden grammatischen Regeln verbalisieren. „Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen.“ (S. 25)
Gigerenzer zeigt, dass sich vermeintliche Denkfehler, die von der klassischen ökonomischen Theorie in zahlreichen Experimenten nachgewiesen wurden, in der wirklichen Welt häufig als intelligentes soziales Urteil erwiesen (S. 113). In einer ungewissen Welt seien komplexe Methoden der Entscheidungsfindung, die auf mehr Informationen und Berechnungen setzen, häufig schlechter und könnten Schaden anrichten, weil sie die ungerechtfertigte Hoffnung auf Gewissheit wecken. Um gute Entscheidungen in einer ungewissen Welt zu treffen, sollten wir einen Teil der Informationen außer Acht lassen. Genau das geschehe bei der Anwendung von Faustregeln. Dadurch ließen sich Zeit und Mühe sparen und bessere Entscheidungen treffen. Entscheidungen auf der Basis von Heuristiken seien oft überlegen, weil sich die Heuristik auf die eine oder die wenigen Informationen konzentriere, die wichtig seien, und die anderen außer Acht ließen.
Experimente haben gezeigt, dass weniger Zeit und weniger Informationen manchmal besser sind als mehr Zeit und mehr Informationen. „Weniger ist mehr bedeutet, dass es ein bestimmtes Spektrum an Informationen, Zeit oder Alternativen gibt, bei dem geringere Mengen günstiger sind.“ (S. 46)
Gigerenzer betont insbesondere auch den Wert von Intuitionen. Eine Intuition oder ein Bauchgefühl ist ein Urteil,
- das unvermittelt im Bewusstsein auftaucht,
- dessen Gründe uns nicht ganz bewusst sind,
- das stark genug ist, um danach zu handeln.
In seinem Buch „Risiko“, das ich an dieser Stelle bereits besprochen hatte, berichtet Gigerenzer von einer Befragung von 32 Managern eines großen, internationalen Technologiedienstleisters: Kein einziger Befragter gab an, nie eine Bauchentscheidung zu treffen, aber andererseits gab auch niemand an, sich immer nur auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Die Mehrheit der Führungskräfte gab an, sich in ungefähr 50 Prozent der Fälle auf ihre Bauchentscheidungen zu verlassen. Eine weitere Befragung von 50 Spitzenmanagern eines großen, internationalen Autoherstellers ergab, dass 76 Prozent der Befragten erklärten, sie verließen sich in der überwiegenden Zahl der Fälle auf Bauchentscheidungen.
Seine Studien ließen darauf schließen, so Gigerenzer, dass sich Manager umso häufiger auf Bauchgefühle verließen, je höher sie in der Hierarchie angesiedelt seien. Allerdings sagten die meisten auch, wenn sie Entscheidungen gegenüber Dritten zu rechtfertigen hätten, würden sie ihre Intuition verschweigen und diese rationalisieren, also Gründe nachschieben. Viele Manager stünden deshalb nach außen nicht zu ihren intuitiv gefällten „Bauchentscheidungen“, weil von ihnen eben eine rationale Rechtfertigung verlangt werde und keine Intuition. Zudem könne man sich in einer Gruppe nicht mit einer Intuition durchsetzen, die man nicht erklären könne.
Die Bedeutung von Heuristiken und Bauchentscheidungen gehen weit über die Person des Managers oder Unternehmers hinaus, sie prägen, wie Gigerenzer zeigt, oft die ganze Firma. Führungskräfte „haben ihre persönlichen Faustregeln, die sie, häufig unbewusst, entwickeln, um rasche Entscheidungen zu erleichtern.“ Auch wenn Führungskräfte ihre Regeln nicht vorsätzlich am Arbeitsplatz durchzusetzen vermögen, so folgten ihnen die meisten Angestellten doch unbewusst – und sie hielten sich dort manchmal noch, nachdem der Chef die Firma längst verlassen habe (S. 87). Solche Faustformeln prägen also manchmal die gesamte Unternehmenskultur.
Gigerenzer betont, wie wichtig Nachahmung für das menschliche Verhalten ist. Kein Mensch könne angesichts der begrenzten Zeit und Informationen, die zur Verfügung stehen, ernsthaft versuchen wollen, alle Entscheidungen selbst zu treffen. Oft sei es vernünftig, einfach das Verhalten anderer Menschen nachzuahmen. Nachahmung sei einer der entscheidenden Prozesse, in denen sich die Übermittlung der ungeheuren kulturellen Information von Generation zu Generation vollziehe (S. 230 f.). Allerdings müsse zwischen zwei grundlegenden Arten der Nachahmung unterschieden werden:
„Tue das, was die Mehrheit deiner Bezugsgruppe tut.
Tue das, was der Erfolgreiche tut.“ (S. 231)
Nachahmung der Mehrheit befriedige den Gemeinschaftsinstinkt und erzeuge eine „angenehme Konformität“ (S. 231), doch wenn sich jeder auf Nachahmung beschränke, gebe es keine Veränderung (S. 233). Die Nachahmung traditioneller Verhaltensweisen sei in der Regel dann erfolgreich, wenn sich Veränderungen sehr langsam vollzögen, während sie bei raschen Änderungsprozessen gefährlich seien (S. 233).
Gigerenzers Buch räumt mit vielen Vorurteilen auf: „Bauchgefühle“ und „Intuition“ sind weder etwas Irrationales noch sind sie bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. Es handelt sich um wertvolle Entscheidungshilfen, ohne die wir alle im Leben – im Alltag wie auch in der Wirtschaft – nicht zurecht kämen und hoffnungslos scheitern würden. R.Z.