Was könnte wichtiger sein, als zutreffende Prognosen abzugeben? Naiv ist es, wenn manche Menschen über Prognostiker die Nase rümpfen, weil sie immer wieder daneben liegen. Denn ein Leben, ohne Prognosen ist gar nicht denkbar. Wenn wir heiraten, treffen wir eine Prognose – ebenso wenn wir uns für ein Studienfach entscheiden, ein Haus kaufen oder in einen Aktienfonds investieren. Auch wenn wir uns selbst nicht darüber bewusst sind, beinhaltet jede dieser Entscheidungen eine Annahme über künftige Entwicklungen. Daher interessierte mich dieses Buch, das davon handelt, wie man seine Fähigkeit, zutreffende Prognosen abzugeben, verbessern kann.
Der Autor, ein anerkannter Wissenschaftler auf seinem Gebiet, berichtet nicht von subjektiven Erfahrungen mit Prognosen und gibt auch nicht einfach Meinungen zum Thema zum Besten. Sondern er beschreibt ein von der 2006 gegründeten Behörde IARPA (Intelligence Advanced Research Projects Agency) in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt, dessen Ziel es war, die Treffergenauigkeit von Prognosen der US-Nachrichtendienste zu verbessern.
2010 wurden dafür 2800 Freiwillige rekrutiert – ganz normale Menschen, keine Prognoseexperten. Leute aus unterschiedlichen Berufen, die in ihrer Freizeit nun regelmäßig Fragen analysierten und Prognosen dazu abgaben, wie sie auch für Nachrichtendienste typisch sind: Wird der Präsident von Tunesien nächsten Monat ins Exil fliehen? Wird ein Ausbruch der Vogelgrippe in China in den kommenden sechs Monaten mehr als zehn Menschenleben fordern? Werden Ärzte bei der Autopsie der Leiche von Palästinenser-Chef Arafat Reste eines Giftes finden? Wird Serbien am 31.Dezember 2011 offizieller Beitrittskandidat der EU?
Die Fragen hatten meist einen kurz- und mittelfristigen Horizont, zumal der Autor der Ansicht ist, dass nur Prognosen mit einem vergleichsweise kürzeren zeitlichen Horizont einigermaßen treffsicher sein können. Seine Untersuchungen hätten gezeigt, dass das menschliche Gehirn nie in der Lage sein werde, auf Jahre hinaus entscheidende Ereignisse im Leben eines Menschen oder einer Nation vorherzusagen – so sehr wir auch an unseren Prognosemethoden feilen (S. 100). Zudem hatte dieser Zeithorizont auch den Vorteil für das Projekt, dass überhaupt geprüft werden konnte, ob die Prognosen richtig waren oder nicht. Bei Langzeitprognosen, die sich über viele Jahre erstrecken, wäre eine solche Überprüfung nicht möglich gewesen.
2800 Freiwillige beteiligten sich an dem Projekt, dessen Ziel es war, „Superprognostiker“ zu finden, bei denen die Trefferquote in mehreren Jahren weit über dem Zufall lag. Im ersten Jahr erzielten 59 Teilnehmer des Projektes Spitzenleistungen (S.105). Rund 30 Prozent der Spitzenprognostiker fielen nach einem Jahr wieder aus den besten zwei Prozent heraus. Das heißt aber auch: „70 Prozent aller Superprognostiker bleiben in dieser Kategorie. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konstanz dem Zufall geschuldet ist, liegt bei 1 zu 100 Millionen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei unseren Prognostikern tatsächlich auftritt, liegt (bei einem Korrelationskoeffizienten von 0,65) bei 1 zu 3, also deutlich höher.“ (S. 116) Ja, auch Glück spielt eine Rolle, aber eben nicht die entscheidende. Es sei ja zu erwarten, „dass selbst die Besten hin und wieder ein schlechtes Jahr erwischen und normale Ergebnisse erzielen – genau wie Sportler, die gelegentlich ein Formtief haben“. (S.117)
Die Autoren kritisieren jene Prognosen, die von vermeintlichen Wirtschafts- und Politikexperten oft in den Medien abgegeben werden: Meist seien sie vage formuliert, enthielten keinen Zeithorizont und würden später von niemandem überprüft. Die in den Medien zitierten Prognosen würden oft von Menschen abgegeben, deren Selbstsicherheit hinsichtlich der eigenen Zukunftsaussagen im umgekehrten Verhältnis zur Validität stünden. Untersuchungen kamen sogar zu dem Ergebnis: „Je bekannter ein Experte ist, umso schlechter sind seine Prognosen.“ (S.83) Das habe damit zu tun, dass Prognostiker, die weniger sicher aufträten und sparsamer mit Wörtern wie „unausweichlich“ und „unmöglich“ hantierten, weniger nachgefragt würden als jene, die apodiktische Aussagen träfen.
Damit eine Prognose überhaupt überprüft werden könne, müsse sie klar und eindeutig formuliert werden. Daran mangele es jedoch oft, denn je vager eine Prognose formuliert ist, desto eher kann sich der Prognostiker später darauf berufen, sie sei eingetreten (ähnlich wie bei allgemeinen Formulierungen in Horoskopen, die sich leicht so umdeuten lassen, dass sie für eine Vielzahl von Entwicklungen zutreffen).
Eine „Prognose“ beispielsweise, in der es hieße, dies oder jenes „könne“ geschehen, sei sinnlos – denn prinzipiell „könnte“ fast alles geschehen. Es geht um Wahrscheinlichkeiten. Es sei relativ selten, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit für ein Ereignis 0 oder 100 Prozent betrage. Die Autoren plädieren dafür, jede Vorhersage mit einer Zahl zu verbinden, mit welcher die Eintrittswahrscheinlichkeit bezeichnet werde. Der Grund ist einfach: Die drei Parameter „sicher“, „unmöglich“ und „vielleicht“ erlauben zu wenig Differenzierungen. „Je genauer Sie zwischen verschiedenen Abstufungen der Wahrscheinlichkeit unterscheiden können, umso besser werden Ihre Voraussagen.“ (S. 295)
Was macht einen guten Prognostiker aus?
- Er ist pragmatisch und nicht von einer bestimmten Ideologie geleitet. Die Experimente belegten, dass jene Gruppe von Experten, die ihr Denken tendenziell um einen großen Gedanken herum organisierten, schlechter abschnitt als die Pragmatiker (S. 80). Gute Prognostiker sind „nicht mit einer Idee oder Agenda verheiratet“ (S. 204).
- Die besten Prognostiker in dem oben beschriebenen Forschungsprojekt gehörten laut Testergebnissen zu den intelligentesten 20 Prozent der Bevölkerung. Intelligenz und Wissen spielen also eine Rolle, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Es gilt keineswegs die Regel, dass die Zuverlässigkeit der Prognosen mit der Intelligenz und Bildung des Prognostikers stetig zunimmt – zumindest nicht ab einem bestimmten Intelligenzgrad. (S. 122).
- Was die Persönlichkeit anlangt, so ist das aus „Big Five“-Persönlichkeitstests bekannte Merkmal „Offenheit für neue Erfahrungen“ bei sehr guten Prognostikern stark ausgeprägt (S. 139). Für gute Prognostiker sind Überzeugungen „Hypothesen, die man überprüft, nicht Schätze, die man hütet“ (S. 204).
- Gute Prognostiker beginnen mit der Schätzung einer Anfangswahrscheinlichkeit. Was ist damit gemeint? Ein Beispiel (nicht vom Autor, sondern von mir): Wenn ich vor der Hochzeit eine Aussage darüber treffen will, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass meine Ehe geschieden wird, dann befasse ich mich nicht zuerst mit der Persönlichkeit und dem Vorleben von mir und meiner künftigen Frau (das wäre die „Innenansicht“), sondern beginne mit der „Außenansicht“ und komme so zu einer Anfangswahrscheinlichkeit. Diese liegt z.B. bei Scheidungen bei 39,3 Prozent, denn das ist der Prozentsatz der in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland geschlossenen Ehen, die wieder geschieden werden. Ich verfeinere meine Prognose, wenn ich dann den Wert heranziehe, der für Menschen gilt, die in einer Großstadt leben (und der vermutlich deutlich höher ist als für den landesweiten Durchschnitt). Falls Protestanten und konfessionell nicht Gebundene häufiger geschieden werden sollten als Katholiken, dann korrigiere ich die Wahrscheinlichkeit nach unten, wenn beide Partner Katholiken sind. Dann erst komme ich irgendwann zu spezifischeren Merkmalen, um diese Ausgangswahrscheinlichkeit nach oben oder nach unten zu korrigieren. Falls z.B. die Wahrscheinlichkeit für eine Person, die schon zuvor mehrfach verheiratet war, höher liegen sollte als für eine, die noch nie verheiratet war, dann korrigiere ich den Wert nach oben, falls ich oder meine künftige Frau bereits mehrfach geschieden wurden usw.
- Gute Prognostiker suchen keineswegs nur nach Bestätigungen für ihre Vorhersagen, sondern vor allem nach Argumenten, die gegen ihre Aussage ins Feld geführt werden könnten. Es ist entscheidend wichtig, eine andere Perspektive einzunehmen. (S. 137)
- Gute Prognostiker sind zahlenaffin und denken in Zahlen (S. 185). Das heißt nicht, dass sie komplizierte mathematische Modelle verwenden. Die meisten guten Prognosen sind vielmehr das Resultat gründlichen Nachdenkens und abgewogener Urteile. (S. 142) Zahlen sind jedoch wichtig, weil sie zwingen, präziser nachzudenken und weil sie eine Überprüfung der Urteile überhaupt erst ermöglichen.
- Gute Prognostiker korrigieren ihre Prognosen häufiger (wenn neue Gesichtspunkte auftauchen), aber sie vermeiden dabei die beiden häufigen Fehler, neue Informationen entweder überzubewerten oder nicht ausreichend einzubeziehen (S. 172). Sie vermeiden das, was Psychologen als „Bestätigungsfehler“ bezeichnen, nämlich das Ignorieren von neuen Gesichtspunkten, die der eigenen Meinung widersprechen. Umgekehrt tappen sie auch nicht in die Falle, sich zu stark von neuen Informationen beeindrucken zu lassen – denn damit verliert man den Wert der früheren Informationen, die der ursprünglichen Prognose zugrunde lagen. „Aber wenn wir alte und neue Informationen sorgfältig gegeneinander abwägen, nutzen wir den Wert von beiden und bündeln sie zu einer neuen Vorhersage.“ (S. 183)
- Um ein guter Prognostiker zu werden, bedarf es vor allem systematischer Übung. „Übung“ heißt nicht einfach nur eine Vielzahl von Prognosen zu erstellen. Vielmehr ist ein sehr klares Feedback notwendig, um dazu zu lernen. Wer schwammige Prognosen abgibt, wird kaum aus seinen Fehlern lernen können, weil er eben kein klares Feedback erhält, ob er richtig oder falsch lag (S. 196 – 198). Wer seine eigenen Fehlprognosen rechtfertigt (was die meisten schlechten Prognostiker tun), statt den Irrtum zuzugeben, beraubt sich selbst der Möglichkeit, dazu zu lernen.
- Gute Prognostiker neigen zur Selbstprüfung und Selbstkritik und haben ein Verständnis für die zahlreichen möglichen Denkfehler und emotionalen Verzerrungen, auf die uns beispielsweise die Theorien und Experimente der Behavioral Economics immer wieder hinweisen.
- Gute Prognostiker brechen scheinbar unlösbare „große“ Probleme und Fragestellungen auf zahlreiche kleinere und lösbare „Unterprobleme“ herunter (S. 292). Es ist oft schwieriger, zu allgemeinen, global formulierten Fragestellungen eine Vorhersage abzugeben als zu eingeschränkteren, kleineren Themen. Die globalen Themen lassen sich aber oft zerlegen in viele Unterthemen und Unterfragestellungen.
Das Buch ist sehr zu empfehlen – denn es regt dazu an, über das eigene Verhalten bzw. über eigene Prognosen nachzudenken. Zudem ist es einfach und locker geschrieben, so dass man es – trotz der komplizierten Thematik – mit Freude liest. R.Z.