Dies ist eine flammende und mit zahllosen Fakten untermauerte Streitschrift gegen den in Deutschland grassierenden Vorschriftenwahn, gegen zunehmende Reglementierung und Gedankenkontrolle. Ich gebe jedoch zu, dass ich bei der Lektüre selbst eine Fantasie für eine Vorschrift hatte: Für jeden Politiker sollte dieses Buch Pflichtlektüre sein, und nach der Lektüre sollte er einen Besinnungsaufsatz darüber schreiben, was er aus dem Buch für Folgerungen zieht. Diese Vorschrift wäre jedenfalls sehr viel sinnvoller als viele der 246.944 Bundesvorschriften (S.13) und der zahllosen weiteren Vorschriften und Regelungen, die ein Bürger dieses Landes zu beachten hat. Darunter sind beispielsweise diese:
- Der Oberbürgermeister und das Amt für Verkehrsmanagement der Stadt Düsseldorf haben einen ausführlichen Leitfaden herausgegeben, in dem auf acht Seiten erklärt wird, wie man als Fußgänger richtig über die Ampel geht. Unter der Überschrift „Die Ampel springt auf Grün“ wird erläutert, dies sei „der ideale Zeitpunkt für alle Fußgänger, jetzt loszugehen“. (S. 57).
- Laut § 22 StVO müssen sich Hunde im Auto anschnallen, Katzen dagegen nicht. Dafür dürfen Hunde vom Fahrrad aus geführt werden, für Katzen ist das untersagt (§ 28). (S.58)
- Bei der Mülltrennung blickt keiner mehr richtig durch. Laut der „Sechsten Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung“ muss ein Kleiderbügel, der mit einem Kleidungsstück gekauft wurde, im gelben Sack entsorgt werden, während der Kleiderbügel, der getrennt von Kleidungsstücken erworben wurde, in die Restmülltonne gehört (S. 201). Das ist nur eines von vielen Beispielen: Inzwischen ist die Sache mit der Mülltrennung so kompliziert, dass nicht einmal der Pressesprecher der Berliner Stadtreinigung wusste, wohin welcher Abfall kommt.
- Wer in Hamburg ein Haus baut, hat insgesamt etwa 30 Verordnungen zu beachten, von der Garagenverordnung GarVO bis zur ÜTVO, der „Verordnung über die Überwachung von Tätigkeiten mit Bauprodukten und bei Bauarten“ (S. 77).
- Ein Fischhändler in Hamburg wurde vom Amtsgericht Altona zu einem schriftlichen Hinweis verdonnert: „Wir müssen Sie darauf hinweisen, dass im Fisch Gräten vorkommen können.“ Ein Kunde hatte sich beim Verzehr an einer Gräte verschluckt und auf Körperverletzung geklagt (S. 80).
- Auf Bügeleisen findet man den Warnhinweis: „Kleidung nicht am Körper bügeln“. Hersteller von Erdnussverpackungen müssen, wenn sie keine entsprechenden Prozesse riskieren wollen, auf der Verpackung darauf hinweisen: „Kann Spuren von Nüssen enthalten“ (S. 80).
- Lebensmittelherstellern wird durch die EU-Richtlinie 79/693/EEC vorgeschrieben, dass als „Marmelade“ nur Erzeugnisse bezeichnet werden dürfen, die aus Orangen und Zitronen hergestellt werden. Produkte, die beispielsweise aus Erdbeeren oder Pflaumen hergestellt werden, dürfen nicht „Marmelade“ genannt werden, sondern „Konfitüre“ (S. 29).
- Bankkunden müssen ausführliche Beratungsprotokolle unterschreiben, die eine sachgerechte Beratung garantieren sollen tatsächlich jedoch eher den Kreditinstituten zur Abwehr von Klagen wegen Beratungshaftung dienen (S.87).
- Ebenfalls auf eine EU-Vorschrift zurück geht die Vorgabe, dass sich Menschen, die mit einem Presslufthammer arbeiten, an Grenzwerte für „Hand-, Arm und Ganzkörperschwingungen“ zu halten haben, berechnet nach folgender Formel: „Quadratwurzel aus der Summe der Quadrate der Effektivwerte der frequenzbewerteten Beschleunigung in den drei orthogonalen Richtungen“ (Richtlinie 2002/44, S. 30).
- Genau vorgeschrieben ist auch die höchstzulässige Zahl von Astlöchern in Regalbrettern (S. 33).
- Die Stadt Fürth kassiert für das Aufstellen von Verkaufsautomaten, die weiter als 15 cm in den Raum ragen („Luftsteuer“, S. 42).
- Eine quasi staatliche Namensberatungsstelle an der Universität Leipzig weist junge Eltern darauf hin, dass man sein Kind Calibra, Alfa oder Romeo nennen darf, aber nicht Manta, Skoda oder Fiat (S. 48).
- Der Bundesgerichtshof befasste sich mehrere Monate mit der ebenso wichtigen wie komplizierten Frage, welche sogenannte Laubrente einem Gartenbesitzer als Entschädigung dafür zusteht, dass er im Herbst die herübergewehten Blätter des Nachbarn wegharken muss (S. 48).
- Eine Grabsteinrüttelverordnung legt in einigen Kommunen fest, dass Grabsteine auf Friedhöfen regelmäßig auf ihre Standfestigkeit getestet werden müssen, um zu verhindern, dass sie umfallen (S.55).
- In Berlin und vielen anderen Kommunen bekommen Eltern nach der Geburt eines Kindes Kontrollbesuche vom Amt. Die Beamten müssen feststellen, ob zu Hause auch alles in Ordnung ist (S.100).
- Arbeitsschutzverordnungen enthalten immer detailliertere Vorschriften, so u.a. auch dazu, wie die Toilette im Pausenraum beschaffen sein muss: Die Beleuchtung muss mindestens 100 Lux, die Raumtemperatur mindestens 21 Grad und die Belüftung mindestens 15 Kubikmeter Frischluft pro Stunde betragen (S. 102).
- Die Flensburger Arbeitsschutzbehörde wollte einen Fotografen zwingen, ein Fenster in seine Dunkelkammer einzubauen (S. 103).
- In Berlin gibt es keinen Karnevalsumzug mehr, weil die Behörde festlegte, dass die Karnevalisten nur noch mit einer Lautstärke von maximal 75 Dezibel durch die Straßen ziehen dürfen (S. 107). Für andere Umzüge, wie etwa den Christopher Street Day, galt dies jedoch nicht.
- In Berlin werden in öffentlichen Gebäuden wie dem Rathaus Unisex-Toiletten aufgestellt, damit „Transgender“ und andere Personen, die nicht so genau wissen, ob sie Mann oder Frau sind bzw. sein wollen (oder keines von beiden) eine eigene Toilette haben (S. 165).
- An vielen Hochschulen werden Studierende (Studenten darf man nicht mehr sagen, da dies diskriminierend wäre) verpflichtet, Seminar und Abschlussarbeiten in „geschlechtsneutraler Sprache“ zu verfassen. (S.167)
- Die Bundesregierung hat sich in § 42, Abs. 5 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien zu einer „geschlechtersensiblen Sichtweise“ verpflichtet. In § 25 der Straßenverkehrsordnung ist daher beispielsweise nicht mehr vom „Fußgänger“ die Rede, sondern „wer zu Fuß geht“ und der „Fahrzeugführer“ mutierte in § 23 „wer ein Fahrzeug führt“ (S.168 f.)
- Das Anti-Diskriminierungsgesetz führt zu absurden Blüten: Ein Diplom-Verwaltungswirt bekam bereits acht Mal vor dem Verwaltungsgericht Recht, weil er klagte, dass er nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen worden war. Er führte das auf seine Behinderung zurück. Jeder Arbeitgeber, der ihn nicht zum Bewerbungsgespräch einlud und dann vor Gericht unterlag, musste drei Monatsgehälter Schadenersatz zahlen (S. 188).
- In München bekommen alle Haushalte Briefe der Behörden mit dem Hinweis, dass es streng untersagt sei, den Müllmännern zu Weihnachten oder zum Jahresende Trinkgelder zu geben, weil damit gegen Compliance-Vorschriften verstoßen werde (S. 196).
- Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Es handelt sich nicht um kuriose Einzelfälle, sondern in diesen Beispielen wird eine bestimmte Mentalität deutlich, die Neubacher kritisiert: Der Staat glaubt, besser zu wissen, was gut für die Menschen ist als die Menschen selbst. Der Gesetzgeber und der Beamte in seiner Amtsstube nimmt den Menschen das Denken ab, entscheidet, welcher Lebenswandel der richtige ist.
Neubacher behauptet keineswegs, dass Menschen stets wie mündige Verbraucher handeln. Aber erstens weist er nach, dass sich Politiker und Beamte mit ihren Vorgaben ebenso häufig irren wie die Bürger, denen sie ihren Lebenswandel vorschreiben wollen. Und zweitens vertritt er die liberale Grundhaltung, dass jeder das tun und lassen soll, was er möchte, solange er keinem anderen damit schadet.
Man kann nicht alle Menschen vor unvernünftigem Verhalten schützen, ohne einen extrem bevormundenden Kontroll und Vorschriftenstaat zu etablieren. Soll der Staat Menschen vor unvernünftigen Geldanlagen schützen? Nein, so der Autor: „Wer sein Geld auf den grauen Kapitalmarkt trägt anstatt zum Festgeldkonto seiner Sparkasse, weiß, was er tut. Und falls nicht, ist ihm nicht zu helfen.“ (S. 91)
Vieles könnte der Markt regeln ohne staatliche Vorgaben. Beispiel Rauchverbot: Der Staat, so Neubacher, habe es den Gastronomen zu überlassen, ob sie ihren Gästen das Rauchen erlauben oder nicht. Die Gäste sollten entscheiden, wo sie einkehren wollen. Sie bestimmen, welches gastronomische Konzept sich durchsetzt. „Und sollte sich dabei herausstellen, dass die Tage der Raucherkneipe tatsächlich gezählt sind, weil niemand mehr im Qualm sitzen möchte, wäre das auch in Ordnung.“ (S. 123) Dann haben das die Verbraucher eben so entschieden und nicht der Staat.
Neubacher wendet sich nicht nur gegen staatliche Bevormundung, sondern beispielsweise auch gegen den Gedanken, dass die Krankenkassen ihre Beitragszahler durch Belohnung und Strafe von Verhaltensweisen abhalten sollten, mit denen sie sich selbst schädigen zum Beispiel das Rauchen. Vor der Lektüre des Buches war ich in dieser Hinsicht anderer Meinung als Neubacher: Warum sollen Menschen, die gesünder leben, mit ihren Beitragszahlungen das gesundheitsschädliche Verhalten von Übergewichtigen und Rauchern finanzieren? Der Autor hat mich jedoch überzeugt, dass dieses Argument an den Tatsachen vorbeigeht: Da Raucher und Übergewichtige deutlich früher sterben, kosten sie die Versichertengemeinschaft nicht mehr, sondern sogar weniger: Die durchschnittlichen Gesundheitskosten eines schlanken Nichtrauchers liegen zwischen dem 20. Lebensjahr und dem Lebensende bei 281.000 Euro, die eines Übergewichtigen bei 250.000 Euro und die eines Rauchers bei 220.000 Euro. Grund: Der Raucher wird im Schnitt 77,4 Jahre, während der schlanke Nichtraucher eine Lebenserwartung von 84,4 Jahren hat (S. 151).
Zur Freiheit, so Neubacher, gehört auch, sich gegen eine gesunde Lebensführung zu entscheiden. „Der Bürger ist nicht verpflichtet, sich den Vorstellungen des Staates von einem gelingenden Leben zu unterwerfen. Es gibt ein Recht auf Gesundheit, aber keine Pflicht zur Gesundheit. Solange wir keinem anderen schaden, dürfen wir gute und medizinisch wertvolle Ratschläge ignorieren.“ (S. 124) Neubacher zitiert den treffenden Ausspruch von John Stuart Mill: „Alle Irrtümer, die ein Mensch wider besseren Rat und Warnung begehen kann, sind bei weitem nicht so schlimm wie Verhältnisse, in denen andere ihn zu etwas zwingen können, das sie für gut halten.“ (S. 269).
Eine Aussage des Autors würde ich indes durch einen wichtigen Zusatz ergänzen: „Wir sollten heilfroh darüber sein“, so Neubacher, „dass unsere Gesellschaft nicht nur aus Alphatieren, High-Potentials und Effizienzwundern besteht, sondern auch aus Drückebergern, Spinnern und angeblichen Minderleistern.“ (S. 275) Dem würde ich zustimmen, wenn es nicht tatsächlich so wäre, dass diese „Minderleister“ dann dennoch unter dem Stichwort „soziale Gerechtigkeit“ darauf dringen, staatlich bezuschusst und alimentiert zu werden und die „Mehrleister“ mit Neid und Missgunst überziehen, weil diese eben entsprechend mehr haben.
Gesellschaftlicher Fortschritt, da stimme ich dem Autor zu, entsteht durch Trial and Error, durch den Wettbewerb neuer Ideen und Technologien, durch Experimentierfreudigkeit und Neugier und nicht durch eine Verbotskultur. Wären die Menschen schon immer so gewesen wie es insbesondere (aber nicht nur) wir Deutschen heute sind, dann wären vermutlich das Feuer, die Elektrizität, das Auto oder das Flugzeug nie erfunden worden, weil Bedenkenträger die (unstrittig vorhandenen) Risiken als Argument für ein Verbot dieser gefährlichen Erfindungen ins Feld geführt hätten. Zum Glück scheint es nicht so gewesen zu sein, dass sich bei Erfindung des Feuers eine Gruppe von Urmenschen mit einer Unterschriftensammlung (auf Steine geritzt) durchgesetzt hat, die dringend vor unvermeidlich drohenden Brandkatastrophen warnte.
Rundum: Ein sehr lesenswertes Buch mit einer Fülle von Beispielen für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung. Leider beschränkt sich diese nicht nur auf Deutschland. In den USA ist es teilweise noch schlimmer: Kein Haltegriff in der U-Bahn oder dem Bus ohne eingehende Belehrungen über die Risiken, was alles passieren könnte, wenn man sich nicht festhält. Und wenn ich in Deutschland eine Wohnung kaufe, passt der Vertrag in einen schmalen Schnellhefter, während die Kaufdokumente für eine einzelne Wohnung, die ich in New York erwarb, zweieinhalb dicke Leitzordner füllen.
In einer Neuauflage könnte der Autor noch ein Kapitel über staatliche Pläne zur Internet-Zensur bzw. zu Gesetzen gegen Fake-News ergänzen. Zudem wäre ein Kapitel interessant, das den Widerspruch zwischen einerseits immer rigideren und detaillierteren Regulierungen und Vorschriften und andererseits dem permanenten Verstoß gegen Recht und Gesetz durch die Regierung aufzeigt. In der EU-Rettungspolitik, beim Abschalten der Kernkraftwerke und in der Flüchtlingspolitik wurde durch die Regierung massiv gegen elementare Rechtsvorschriften bzw. völkerrechtlich bindende Verträge verstoßen. Hat der Bürger Verständnis für immer rigidere Detailvorschriften, wenn der Staat sich selbst nicht an grundlegende Gebote rechtsstaatlichen Handelns hält? Statt eines Wahlprogramms sollte die FDP vielleicht einfach dieses Buch verteilen und zu ihrem Manifest für die Freiheit erklären.