Das Buch kommt zur rechten Zeit. Scheinbar sind Angela Merkels zahlreiche Rechtsbrüche und ihr Versagen in der Europa-, Energie- und Flüchtlingspolitik vergessen. „Die Welt“ titelte sogar am 20. Mai in großen Lettern auf Seite 1: „Die Deutschen fangen an, vier weitere Jahre mit Angela Merkel gut zu finden.“ Josef Schlarmann dagegen findet wenig gut an Merkel. Er war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU und Mitglied des CDU-Bundesvorstandes. Gut findet er die Angela Merkel des „Leipziger Reformparteitages“ Ende 2003, als sie sich noch für marktwirtschaftliche Reformen einsetzte. Mit dieser Episode beginnt sein Buch – aber es war eben leider nur eine sehr kurze Episode, an die weder Merkel noch andere führende Unionspolitiker heute erinnert werden wollen.
Sozialdemokratisierung der Union
Schlarmann zeigt, wie Merkel die CDU zunehmend sozialdemokratisiert und gravierende Probleme aufgehäuft hat, für die die Deutschen erst in Zukunft die Rechnung werden bezahlen müssen. Schon in der Großen Koalition 2005 wurde ersichtlich, dass Merkel keine Reformagenda hat, sondern die Sozialdemokraten den Ton angeben – so etwa beim Antidiskriminierungsgesetz, in der Gesundheitsreform und bei den Unternehmenssteuern. Statt die von Gerhard Schröder begonnenen Reformen fortzuführen, was dringend notwendig gewesen wäre, wurden sie in zwölf Jahren Merkel-Regierung sukzessive zurückgeführt, wie Schlarmann mit einer Fülle eindrucksvoller Fakten zeigt.
2009 waren alle Hemmungen gefallen und es wurde offensichtlich: „Die Union hatte zwar die Wahl gewonnen, die SPD diktierte aber das Regierungsprogramm und besetzte die dafür wichtigen Ministerien. Schnell verständigte man sich darauf, dass die Wahlversprechen beider Parteien in den Koalitionsvertrag einfließen sollten: Die Mütterrente der Union, die von der SPD gewünschte Rente ab 63 Jahren, der von beiden Parteien gewollte Mindestlohn, die Begrenzung der Zeitarbeit, die Frauenquote, Regeln für Werkverträge, die Mietpreisbremse und vieles mehr… Ein solches Ausmaß an Leistungserhöhungen war in Deutschland noch nie beschlossen worden.“ (S. 40)
Merkel ist für Schlarmann der Prototyp des „modernen Politikers“, der sich dadurch auszeichnet, dass er kaum eigene Überzeugungen hat, dafür jedoch eine unendliche Fähigkeit zur Anpassung und „Flexibilität“: „Mal sind sie liberal, selten konservativ, aber immer sozial. Die bisher damit verbundenen Inhalte gehören jedoch nicht mehr zu ihrer ‚politischen Identität‘, sondern können variabel je nach Zweckmäßigkeit zum Einsatz gebracht werden.“ (S. 43).
Vier Themen stehen im Mittelpunkt der kritischen Betrachtung von Merkels Politik: Das Versagen und die Rechtsbrüche in der Euro-Rettungspolitik, die unverantwortliche und ebenfalls nicht rechtsstaatliche „Energiewende“, die Flüchtlingspolitik sowie die Sozialpolitik Merkels.
Bruch des Maastricht-Vertrages
Besonders ausführlich setzt sich Schlarmann mit der sogenannten Euro-Rettungspolitik auseinander. Der Maastrichter Vertragswille wurde „auf den Kopf gestellt“. „Die Griechenlandhilfe und der gemeinsame Rettungsschirm machten die Finanzierungsprobleme einzelner Länder zu einer europäischen Angelegenheit, was der Maastricht-Vertrag mit dem Beistandsverbot ausdrücklich ausschließen wollte. Gleichzeitig bedeutete der Beschluss der Europäischen Zentralbank zum Ankauf von Staatsanleihen, dass die Bank zukünftig die Staatsfinanzierung betreiben konnte. Genau dies wollten die Vertragsparteien mit dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung verhindern. Durch den ‚kollektiven Vertragsbruch‘ der Euro-Staaten verlor die europäische Währungs- und Finanzordnung nicht nur zwei ihrer wichtigsten Regeln, sondern wurde auch in ihrer Zielstellung ‚komplett gewendet‘.“ (S. 90) Die südeuropäischen Länder unter Führung Frankreichs erreichten ihr Ziel, den Maastricht-Vertrag in ihrem Sinne umzugestalten – ohne bei Angela Merkel auf Widerstand zu stoßen (S.91).
Zu Recht merkt Schlarmann jedoch an, dass es schon von Kohl und Waigel „leichfertig“ gewesen sei, zu unterstellen, dass sich alle Euro-Staaten an die Regeln des Maastricht-Vertrages halten würden. Schon damals sei deutlich gewesen, dass die Vertragsparteien mit dem Vertragswerk ganz unterschiedliche Vorstellungen verbanden.
Schlarmann teilt Schäfflers Kritik
Immer wieder zitiert Schlarmann in seinem Buch den FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler, dessen Kritik der Euro-Rettungspolitik er teilt (S. 107, S. 113f., S. 117, S. 138). Schäffler schrieb damals: „Die Grundlagen des Euro wurden still und heimlich ohne eine Änderung der Europäischen Verträge und ohne eine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente verändert. Im Wege eines kollektiven Rechtsbruchs waren sich alle Beteiligten einig, dass gemeinsam geschaffene Regeln nicht angewendet werden sollen.“ (S. 138) Schlarmann zitiert zustimmend auch die Kritik von Hermann Otto Solms an der Steuerpolitik der Union (S. 25) – Schlarmann ist ein Wirtschaftsliberaler, den mit der FDP eigentlich mehr verbindet als mit der Merkel-CDU.
Rechtsbruch nach Fukushima
Nachdem ein Erdbeben in Japan 2011 zu einer Reaktorkatastrophe in Fukushima geführt hatte, erklärte Merkel: „Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen und meine Haltung zur Kernenergie verändert.“ Die von Merkel gewählte Begründung sei jedoch ein „Täuschungsmanöver“ gewesen, so Schlarmann. In Wirklichkeit sei es ihr nicht um eine neue Bewertung atomarer Gefahren gegangen, sondern um die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg. Sie fürchtete, die Grünen könnten aufgrund des Reaktorunfalls zusätzlichen Aufwind bekommen (S. 146).
Schlarmann beschreibt, wie von Merkel parteiintern ein gewaltiger Druck aufgebaut wurde. Skeptiker und Kritiker wurden mit einem erbarmungslosen Konformitätsdruck zum Schweigen gebracht. Er zeigt, wie auch in diesem Fall das Recht gebogen wurde. Umweltminister Röttgen berief sich zur Rechtfertigung der Nacht- und Nebelaktion, in der die vorzeitige Stilllegung von Kernkraftwerken beschlossen wurde, auf § 10 Abs. 3 des Atomgesetzes, wonach Kernkraftwerke stillgelegt werden können, wenn sich durch „die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können“. Eine solche Begründung, so der Autor, sei schon deshalb nicht stichhaltig, weil das Unglück in Japan mit den deutschen Kraftwerken nichts zu tun hatte. „Dass hierbei gegen rechtsstaatliche Regeln und Gepflogenheiten verstoßen wurde, regte niemanden auf. Auch in der Union war nirgends der Wunsch zu spüren, über den neuen Kurs der Regierung eine grundsätzliche Debatte zu führen.“ Nur Arnold Vaatz und Schlarmann kritisierten damals in einer Sitzung des Bundesvorstandes den Kurswechsel. (S. 148)
Die Ironie der Geschichte war, dass sich der Ausstieg auch politisch für Merkel nicht auszahlte – die CDU verlor die Wahl in Baden-Wüttemberg dennoch und mit Winfried Kretschmann wurde der erste grüne Ministerpräsident der Bundesrepublik gewählt.
Planwirtschaftliche Energiewende
Die Energiewende, so verdeutlicht der Autor, ist jedoch mehr als nur der Ausstieg aus der Kernenergie und der Umstieg auf erneuerbare Energien. „Sie ist ein politisches Projekt, mit dem die Ende der neunziger Jahre begonnene Liberalisierung des Strommarktes beendet und die Energiewirtschaft schrittweise in ein planwirtschaftliches System überführt wird.“ (S. 169) Der damalige Umweltminister Altmaier hat die Kosten der Energiewende bis 2022 selbst mit 980 Mrd. Euro berechnet, laut Berechnungen von RWE belaufen sie sich jedoch auf drei Billionen Euro (S. 175 f.).
Gestörtes Verhältnis zur Wirtschaft
Der Autor bescheinigt Merkel generell ein „gestörtes Verhältnis zur Wirtschaft“. Während zuvor alle deutschen Kanzler persönliche Verbindungen zu Unternehmern pflegten – Schröder wurde ja deshalb sogar als „Genosse der Bosse“ bezeichnet – pflege Merkel eine auffällige Distanz zu Wirtschaftsleuten (S. 197). Viele Unternehmer seien von der Wirtschaftspolitik der Union enttäuscht. Steuerreformen seien stets versprochen, aber nie umgesetzt worden. Der im Herbst 2013 zwischen Union und SPD abgeschlossene Koalitionsvertrag habe das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft schwer belastet (S. 206). Statt die Reformen von Schröder weiter fortzuführen, was objektiv notwendig sei, sei mit Maßnahmen wie der Rente mit 63, dem Mindestlohn und einer verstärkten Regulierung des Arbeitsmarktes der Weg in die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen worden. Merkels Konzept sei nicht das der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard, sondern das eines „ökologischen Wohlfahrtsstaates“ (S. 227)
Flüchtlingspolitik
Ebenso scharf ist die Kritik Schlarmanns an Merkels Flüchtlingspolitik. Leider ist dieser Teil des Buches etwas knapp ausgefallen, aber das Wesentliche ist hier gesagt. Ich empfehle, zur Ergänzung das ausgezeichnete Buch des Welt-Redakteurs Robin Alexander („Die Getriebenen“) zu lesen, das die beste und sachkundigste Kritik der Flüchtlingspolitik von Merkel darstellt. Schlarmanns Resümee: „In der Flüchtlingskrise offenbarten sich die Defizite im Krisenmanagement von Angela Merkel: Es sind die schnellen und die impulsiven Entscheidungen, bei denen die langfristigen Folgen und Risiken nicht bedacht werden.“ (S. 253). In der Tat: Das ist der Kern des Problems und auch die Erklärung für den „Erfolg“ Merkels: Alle ihre verhängnisvollen Entscheidungen, ob nun in der Energiepolitik, bei der Euro-Rettung, in der Sozialpolitik oder in der Flüchtlingspolitik wirken sich heute nicht besonders schädlich aus, aber für die Zukunft sind sie eine schwere Hypothek für Deutschland und begründen heute noch kaum absehbare Folgewirkungen und Probleme, unter denen Deutschland in den nächsten Jahrzehnten leiden wird. Daher ist ihre Politik genau das Gegenteil der so oft beschworenen „Nachhaltigkeit“.
Fazit
Schlarmanns Buch ist sehr zu empfehlen. Mit großer Sachkenntnis kritisiert er Merkels Entscheidungen und Versäumnisse in zentralen Politikfeldern. Nur der Titel des Buches „Angela Merkel aus der Nähe“ ist nicht ganz zutreffend. Wer enthüllende Insider-Berichte erwartet – wie sie etwa in dem Buch von Alexander in großer Fülle enthalten sind – wird wohl enttäuscht werden. Dies ändert jedoch nichts am Wert dieses wichtigen Buches, das all jenen zu denken geben sollten, die jetzt schon wieder Angela Merkel zujubeln und dabei vergessen, dass uns die Rechnung für ihre verhängnisvolle Politik erst in der Zukunft präsentiert werden wird. Ich hoffe, dass sich Schlarmann nicht – wie manche andere Unionspolitiker – resigniert zurückzieht, denn für die Zeit nach Merkel werden Politiker wie er oder Christian von Stetten in der Union dringend gebraucht.
Auszüge aus Rainer Zitelmanns neuem Buch, das ebenfalls eine scharfe Kritik an Merkels Politik enthält, finden Sie hier: http://zitelmann-autobiografie.de/