Schon Biographien und mehr noch Autobiographien halte ich für eine problematische Art der Literatur. Aber zu meinem eigenen Erstaunen hat mich die Autobiographie von Rainer Zitelmann geradezu gefesselt. Das liegt nicht nur daran, dass er in seiner Jugend Mitglied von K-Gruppen war und trotzdem später nicht bei den Grünen oder in einer anderen Linkspartei Apparatschik wurde, sondern erst ernst zu nehmender Historiker mit einer Neigung zu wichtigen und aktuellen Themen statt Randfragen, danach als rechts beschimpfter Journalist und schließlich vor ca. zwanzig Jahren den für deutsche Intellektuelle geradezu unfassbaren Entschluss fasste, reich zu werden.
Er gründete ein erfolgreiches PR-Unternehmen und wurde Investor in der Immobilienwirtschaft. Weil er sein Reichtumsziel erreicht hat, muss er eine Art von Intelligenz besitzen, die nicht nur A13-Beamten, sondern auch ordentlichen Professoren in der Regel fehlt. Was mich aber bei der Lektüre wirklich beeindruckt hat, ist, was Rainer Zitelmann nie in seinem Leben war: Mitläufer. Sein Lebenslauf hat mir erst so richtig klar gemacht, dass ich in einer Mitläufergesellschaft lebe, dass der normale Mitmensch vor allem Mitläufer ist.
Trotz der Sprüche über jugendliche Neigungen zu linken oder sozialistischen Auffassungen, mit denen habe ich in keinem Alter sympathisiert. Bei Zitelmann allerdings war die jugendliche Anfälligkeit für kommunistische Ideologie nicht der Anfang eines langen Weges in wirtschaftlichen Unverstand, um später tatkräftig an der Durchsetzung von ‚Armut für Alle‘ mitzuwirken, sondern vor allem eine Chance, nicht nur auf eigenen Beinen zu stehen, sondern auch den eigenen Kopf argumentativ und selbständig einzusetzen. Selbst die Neigung der K-Gruppen zu Spaltung, Säuberungen und Selbstzerfleischung scheint ihm dabei eher geholfen zu haben als geschadet. Noch wichtiger als was man in der Jugend liest – selbst wenn es Marx, Lenin und Mao sind – ist offenbar, dass man sich um eigenständige Verarbeitung bemüht. Dann wird man ungeeignet für die Mitläuferrolle, nicht nur unter den genannten Idolen, sondern in jedem Kontext.
Bei Zitelmann geht die Abneigung gegen Unterordnung so weit, dass er nur in den Berufen des Wissenschaftlers und Journalisten zeitweilig abhängige und untergeordnete Positionen einnehmen konnte, also unter einem Professor oder Chefredakteur arbeiten. Vermutlich gibt es außerhalb von Wissenschaft und Journalismus wenige Positionen, in denen ein junger Mensch so viel Freiraum für selbständiges Denken und Entscheiden hat wie dort.
Zitelmann ist zwar kein Schwabe, denen man nachsagt, um die 40 erwachsen zu werden, sondern Südhesse. Aber um die 40 herum wurde er erwachsen und erkannte den Zusammenhang zwischen Vermögen oder Eigentum einerseits und Freiheit andererseits: Eigentum oder Vermögen macht frei! Oder: Man kann sich die Freiheit sogar erarbeiten! Wer das nicht glaubt, kann bei Zitelmann nachlesen, wie er es gemacht hat, was also möglich ist. In Zitelmanns vorletztem Buch über die Superreichen, dessen wichtigste Ergebnisse auch im neuen Buch kurz angesprochenen werden, kann man viel über andere Wege zum Reichtum und der daraus resultierenden Freiheit lesen. Harte Arbeit als Unternehmer und überlegenes Urteil als Investor muss man allerdings mitbringen, um erfolgreich zu sein.
Sich selbst beschreibt Zitelmann in seiner Autobiographie als ‚unverträglich‘. Sympathisch an diesem Urteil ist, dass ihn diese Charaktereigenschaft vom Mitläufer abhebt. Mitläufer und Jasager werden überall zumindest geduldet, oft sogar gern gesehen. Sympathisch ist auch, wenn man sich nicht selbst belügt – und danach andere belügen muss, weil es nicht mehr anders geht – und eigene Schwächen schon mal benennt.
Dass Zitelmann kein Mitläufer ist, äußert sich auch in seinen Kommentaren zur aktuellen politischen Lage. Weder in der Eurorettungspolitik, noch in der Flüchtlingskrise gehört er zu den vielen Claqueuren der Kanzlerin. Selbst die Grenzen der politischen Korrektheit überschreitet er wie selbstverständlich. Dafür nur ein Beispiel: Er wagt die Frage der Machbarkeit aufzuwerfen, statt sich dem Ruf nach Bekämpfung der Fluchtursachen gedankenlos anzuschließen. Das Buch ist sehr gut lesbar. Es zeigt, dass man nicht Mitläufer sein muss. Es gibt Alternativen.
Professor Erich Weede ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Soziologie der Universität Bonn.