Erinnern Sie sich noch an die Medienkampagne gegen Bundespräsident Wulff, die schließlich zu seinem Rücktritt führte? Fast alle großen Medien schlossen sich wie in einer Front zusammen, die Vorwürfe wechselten, aber das Ziel blieb gleich: Wulff sollte zum Rücktritt gezwungen werden. Später stellte sich heraus, dass alle Vorwürfe falsch waren: „Wulff wurde nach seinem Ermittlungsverfahren von 24 Fahndern unter Leitung von vier Staatsanwälten, der Vernehmung von 93 Zeugen und Kosten in Höhe von mehreren Millionen Euro wegen einer Rechnung über 753,90 Euro angeklagt und freigesprochen.“ (S. 23)
Aber kaum ein Journalist zeigte Einsicht oder Selbstkritik. Ersatzweise musste jetzt der Vorwurf herhalten, Wulff habe sich in seiner Verteidigung falsch verhalten – und sei deshalb selbst Schuld an seinem Fall, nicht jedoch die Journalisten von BILD, FAZ und anderen Medien, die über Monate mit größtmöglichem Aufwand eine der unfairsten Kampagnen gegen einen Menschen inszenierten, die es je in der bundesrepublikanischen Geschichte gegeben hatte.
Dies ist übrigens ein typisches Merkmal von Skandalen: Wenn sich einer oder sogar mehrere Vorwürfe als offensichtlich falsch herausstellen – wie das auch bei Wulff der Fall war -, lassen die Medien nicht etwa von ihrem Opfer ab, sondern suchen nach weiteren angeblichen „Beweisen“ auf ganz anderen Feldern, die die moralische Minderwertigkeit des Attackierten belegen sollen. „Erweist sich im Skandal die zentrale Behauptung als falsch, wird auf andere Sachverhalte verwiesen, die das Verhalten der Angeprangerten skandalös erscheinen lassen. Auf diese Weise werden Sachverhalte, die im Vergleich zur zentralen Behauptung unerheblich sind und alleine kaum Beachtung finden würden, zum Beweis für die Richtigkeit des zentralen Vorwurfs.“ (S. 196)
Der Hase ist selbst schuld, wenn er erschossen wird
Wenn das in die Enge getriebene und an den Pranger gestellte Opfer dann in der Verteidigung Fehler macht, was fast unausweichlich ist, müssen ersatzweise diese Fehler als Begründung dafür herhalten, warum es richtig war, den Menschen an den Pranger zu stellen. „Nach dieser Logik haben bei der Treibjagd nicht die Jäger den Hasen abgeschossen, sondern der Hase hat sich selbst umgebracht, weil er dummerweise in die falsche Richtung gesprungen ist.“ (S. 74)
Der Fall Wulff ist kein Einzelbeispiel, wie der renommierte Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger in seinem Buch zeigt, das soeben in einer stark aktualisierten und erweiterten Fassung erschienen ist. Um es vorweg zu sagen: Es ist das beste Buch, das ich je über Medien gelesen habe. Der Autor vertritt eine dritte Position zwischen den Extremen, in denen heute über Medien diskutiert wird: Die Medien selbst wollen uns in großer Selbstgefälligkeit Glauben machen, im Großen und Ganzen kämen sie ihrer Aufgabe einer objektiven und faktenbasieren Information nach und Verstöße gegen journalistische Prinzipien seien bedauerliche, aber ganz untypische Ausnahmen. Auf der anderen Seite glauben Verschwörungstheoretiker, dass Journalisten von der Politik oder mächtigen „Hintermännern“ ferngesteuert seien und uns bewusst in die Irre führen und manipulieren wollten, dabei einer geheimen Agenda folgend. Beide Sichtweisen sind gleichermaßen naiv.
Medien berichten, so zeigt Kepplinger, häufig einseitig und falsch, und zwar insbesondere dann, wenn Skandale „aufgedeckt“ würden. In Wahrheit werden durch Skandalisierungen jedoch oft keine wirklichen Missstände aufgedeckt, sondern Skandale werden künstlich gemacht. Und bei objektiver Überprüfung stellt sich vielfach heraus, dass die angeblichen Missstände überhaupt nicht existierten oder maßlos übertrieben wurden.
Ein Kennzeichen von Skandalen ist die „verbale Aufblähung der Größe von Schäden und das Verschweigen ihrer geringen Wahrscheinlichkeit“ (S. 61). Ein Beispiel war der sogenannte BSE-Skandal (Rinderwahn), der zu einer regelrechten Panik aufgebauscht wurde. Verschwiegen wurde, dass gerade einmal 0,004 Prozent der Rinder positiv getestet worden waren. Das „Weglassen“ von Wahrscheinlichkeiten ist charakteristisch für viele sogenannte Lebensmittel-Skandale. Am Beispiel BSE, dem größten Nahrungsmittelskandal der Nachkriegszeit, heißt dies: „Es ist gefährlicher zu heiraten als Rindfleisch zu essen, weil mehr Menschen von ihrem Partner ermordet werden, als durch den Verzehr von Rindfleisch ums Leben kommen.“ (S. 63)
Dass der Sinn für Proportionen abhanden kommt, gehört zu den charakteristischen Merkmalen von Skandalen, für die eine künstliche Dramatisierung kennzeichnend ist. „Kleinere Normverletzungen, die kaum Beachtung finden würden, werden als Teil einer Serie von ähnlichen Fällen dargestellt, die den Eindruck eines großen Missstandes hervorrufen.“ (S. 67).
Moderne Schauprozesse
Skandale, so Kepplinger, haben totalitäre Züge: „Sie zielen auf Gleichschaltung, weil Abweichler den Machtanspruch der Skandalisierer und ihrer Anhänger infrage stellen. Große Skandale kann man deshalb als Varianten von Schauprozessen betrachten: Die Anklage enthält fast immer einen wahren Kern. Das Ziel besteht jedoch nicht darin, die Angeklagten in einem fairen Verfahren zu überführen, sondern darin, sie mit allen möglichen Mitteln zu diskreditieren, zu unterwerfen und wenn notwendig effektiv auszuschalten. Deshalb ruft auch im Skandal nichts größere Empörung hervor als die Weigerung der Angeklagten, ihre Schuld zu gestehen und die Unverfrorenheit von Nonkonformisten, sich zu den Skandalisierten zu bekennen – und sei es auch nur durch ein Interview mit ihnen.“ (S. 125)
Das Buch lebt von zahlreichen Beispielen, die all dies anschaulich demonstrieren. Das wichtigste Kapitel ist jedoch das 15. („Die Illusion der Wahrheit“), in dem die Unterschiede zwischen einem Medienskandal einerseits und geregelten Verfahren zur Aufklärung der Wahrheit verdeutlicht werden. In geregelten Verfahren – etwa in einem Gerichtsprozess – gilt als wahr nur, was systematisch ermittelt wurde, intersubjektiv nachprüfbar ist und einer solchen Nachprüfung standhält. Zu den Eigenschaften solcher Verfahren gehören Richtlinien, die die Interessen der betroffenen Person schützen. Und es ist keineswegs alles erlaubt, was bei einer flüchtigen Betrachtung der Wahrheit dienen könnte. Deshalb regelt die Strafprozessordnung, welche Beweise erlaubt und welche im Interesse der Wahrheit und zum Schutz der Angeklagten unzulässig sind. „Im Skandal erscheint vieles erlaubt, was normalerweise unzulässig ist: Illegal beschaffte Informationen werden veröffentlicht – vom STERN das von der Stasi abgehörte Telefonat zwischen Kohl und Biedenkopf. Informanten werden für ihre Aussagen bezahlt – vom SPIEGEL eine Zeugin für ihre Aussagen gegen Rau in der Flugaffäre oder von der BUNTEN mehreren Zeuginnen im Kachelmann-Prozess.“ (S. 191 f.) Es werden anonyme Anschuldigungen veröffentlicht und eine Verteidigung ist nicht nur nicht erwünscht, sondern wird ausdrücklich moralisch diskreditiert. Bei dem Skandal um die sogenannten „Panama“- und „Paradise“-Papers waren die Informationen Ergebnis eines Hackerangriffs auf Anwaltskanzleien, und Gesichtspunkte des Datenschutzes oder des Schutzes der Persönlichkeitsrechte spielten ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob die an den Pranger gestellten Personen überhaupt irgendetwas getan hatten, was rechtlich oder moralisch kritikwürdig ist.
Ein wesentliches Ziel geregelter Verfahren besteht darin, dass gleiche Sachverhalte gleich behandelt und in Relation mit anderen Sachverhalten gesetzt werden. Typisch für Skandale ist hingegen die Ungleichbehandlung ähnlicher Sachverhalte. Dies gilt sowohl für die Beurteilung ähnlicher Sachverhalte zu verschiedenen Zeiten als auch für die Beurteilung ähnlicher Sachverhalte im gleichen Zeitraum. Bei Skandalen werden gleiche Sachverhalte völlig anders behandelt als sie üblicherweise behandelt werden. Privatflüge des Grünen-Politikers Özdemir und von Gregor Gysi kosteten sie ihre politischen Ämter, andere Politiker blieben bei gleichen oder weitaus größeren Verfehlungen im Amt. Die anonymen Spenden an den ehemaligen Schatzmeister der SPD wurden kaum zur Kenntnis genommen, die Spenden an Helmut Kohl wurden dagegen als Verfassungsbruch gegeißelt.
Charakteristisch für Skandale sind die isolierte Betrachtung und die Verallgemeinerung von Einzelfällen. „Bei der Skandalisierung von Politikern, Unternehmern und anderen Personen geschieht das durch die Darstellung von Ausnahmefällen als symptomatisch. Einzelne Verhaltensweisen erscheinen als typisch für einen Politiker, seine Partei, die politische Klasse oder das politische System… Bei der Skandalisierung von Schäden geschieht die Verallgemeinerung meist dadurch, dass die sehr geringe Wahrscheinlichkeit von Einzelfällen nicht erkennbar ist, und damit die geringe Gefahr einer Schädigung ausgeblendet wird.“ (S. 195)
All diese Mechanismen sind nicht etwa Ergebnis von bewussten Lügen oder gar einer gezielten Fernsteuerung der Medien durch finstere Mächte, sondern Ergebnis von psychologischen Mechanismen – vor allem auch von Konformitätsdruck in Gruppen. Journalisten, die oft besonders stolz darauf sind, „kritisch“ zu sein und sich ihre eigene Meinung zu bilden, sind, dies zeigt Kepplinger anhand vieler Beispiele, besonders anfällig für Gruppendruck und konformes Verhalten. Das Buch sollte Pflichtlektüre für jeden Journalisten sein – aber leider sind Journalisten in der Regel sehr schnell dabei, andere zu kritisieren, aber sehr empfindlich, wenn sie selbst kritisiert werden. Für legitime Kritik an verfehlter journalistischer Berichterstattung gibt es sogar ein eigenes Wort: Es handelt sich dabei nach Meinung der Medien um eine unzulässige „Medienschelte“.