Die Autorin beginnt im ersten Teil mit einer Darstellung, wie sich der Kapitalismus historisch entwickelt hat. Eine zentrale These: Er entwickelte sich zuerst dort, wo die Löhne hoch waren, da es sich dort am ehesten lohnte, in Maschinen zu investieren (S. 11, 24, 42ff.).
Interessant ist besonders der zweite Teil, in dem die Autorin mit „drei Irrtümern“ über den Kapitalismus aufräumen will, und zwar:
- Kapitalismus ist nicht Marktwirtschaft
- Kapitalismus ist nicht das Gegenteil von Staat
- Globalisierung ist nicht neu.
Oft werden die Begriff „Kapitalismus“ und „Marktwirtschaft“ synonym gebraucht, wobei, wie Umfragen belegen, „Marktwirtschaft“ bei vielen Menschen einen guten Klang hat, „Kapitalismus“ dagegen nicht (S. 65). Hermann kritisiert, dass beide Begriffe verwechselt würden und begründet, warum im Kapitalismus aus ihrer Sicht kaum Marktwirtschaft herrsche:
a. Einige Großkonzerne hätten eine marktbeherrschende Stellung errungen, wodurch die Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet werde. Die meisten Märkte, so wie Stahl, Autos, Chemie oder Pharma, seien „weitgehend geschlossen und für Neulinge nicht mehr zu knacken“ (S. 68). Konkurrenz herrsche nur noch in Nischen, also dort, wo kleine Friseure, Gastwirte, kleine Ladenbesitzer oder Betreiber einer Reinigung im Wettbewerb stünden (S. 70).
b. Zudem weist Herrmann auf Teile der Wirtschaft hin, die durch hohe staatliche Subventionen charakterisiert sind, so wie die Landwirtschaft in der EU (S. 69).
c. Ein drittes Argument lautet, dass große Unternehmen wie die Deutsche Bank ihre Gewinne angeblich „planen“. Beleg: Der frühere Deutsche Bank-Vorstand Ackermann hatte eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent als Ziel angegeben: Dies zeige, „dass er die Renditen für vorab kalkulierbar hielt. Dies verträgt sich nicht mit der Theorie des freien Wettbewerbs und ihrem Mythos vom unternehmerischen Risiko. In einer reinen Marktwirtschaft würde zwar jede Firma möglichst hohe Profite anstreben, indem sie versucht, die beste zu sein – ob sie aber tatsächlich die beste ist, könnte sie nicht selbst entscheiden, sondern dies ergäbe sich erst durch die Konkurrenz und das Marktgeschehen. Aber offenbar lebte Ackermann nicht in einer solchen Welt der freien Marktwirtschaft, wenn er Gewinnansprüche formulierte, als hätten sie Gesetzeskraft. Planbare Profite gibt es nur in einer Planwirtschaft. Mit seinen Worten hat Ackermann eine Realität formuliert, die überzeugten Marktwirtschaftlern hartnäckig entgeht: Der moderne Kapitalismus ist eine Art Planwirtschaft – auch wenn sie der sozialistischen Planwirtschaft überhaupt nicht ähnelt.“ (S. 71).
d. Das vierte Argument: Die Konkurrenz werde auch dadurch ausgeschaltet, dass die Spitzenmanager fast alle derselben sozialen Gruppe angehören und miteinander vernetzt seien. „Denn wie sollen Firmen ernsthaft gegeneinander konkurrieren, wenn die Chefs Netzwerke der gegenseitigen Abhängigkeit bilden oder gar miteinander befreundet sind?“ (S. 75).
Die Folgerung der Autorin: Die „Marktwirtschaft“ sei eine Fiktion (S. 75); „wir leben also nicht in einer Marktwirtschaft“ (S. 83).
Die zweite These der Autorin über das Verhältnis von Markt und Staat geht in eine ähnliche Richtung. Die Staatsquote liege in vielen westlichen Ländern sehr hoch. Die Finanzmärkte beispielsweise seien gar keine Märkte, weil der Staat den Preis (also den Zins) zentral bestimme. „Ein Marsmensch würde wahrscheinlich denken, dass Finanzmärkte knapp vor einem Sozialismus einzuordnen wären.“ (S. 94)
Zudem gebe es eine implizite Staatsgarantie für die Investmentbanken. Wobei die Autorin prinzipiell nichts gegen eine Rettung von Banken durch den Staat hat – sie hält das nur für eine halbherzige Maßname: „Aber der richtige Weg wäre, die Banken zu retten, sie zu verstaatlichen – und dann die Profiteure zur Kasse zu bitten, indem man die Steuern für die Vermögenden erhöht.“ (S. 210)
Ein anderer Beleg für ihre These von der engen Verbindung zwischen Kapital und Staat sind staatliche Subventionen – wie etwa die Abwrackprämie, mit der der deutsche Staat 2009 den Autobauern half (S. 94).
Die Alternative von Herrmann: Wir sollten nur noch die Hälfte konsumieren und auch nur noch die Hälfte arbeiten (S. 242). Das treffe jedenfalls für die Menschen in den entwickelten Ländern zu. „In einer gerechten Welt müssten also die Menschen im Norden auf Wachstum verzichten, damit die Bewohner im Süden aufholen können, ohne dass die Umwelt kollabiert.“ (S. 243).
Herrmann glaubt auch nicht an Konzepte vom „nachhaltigen Wachstum“, die sie als „Mogelpackung“ bezeichnet. Es müsse insgesamt „weniger produziert“ werden, um die Umwelt zu schonen (S.245). Es wäre eine Befreiung für die Menschen, wenn sie weniger arbeiten müssten (S.245).
Herrmann entwirft nicht eine konkrete Utopie. Ihr Buch endet mit den Worten: „Es wird sich ein neues System herausbilden, das heute noch nicht zu erkennen ist. Aber es wird seine Zeitgenossen genauso überraschen, wie es der Kapitalismus tat, als er 1760 im Nordwesten Englands entstand. Niemand hat ihn erwartet, niemand hat ihn geplant – und trotzdem gibt es ihn. Es gehört zu den faszinierenden Eigenschaften des Menschen, dass er seine eigenen Kulturleistungen weder vorhersieht noch gänzlich versteht. Wo der Mensch ist, ist das Ende offen.“ (S. 247).
Die Autorin bestreitet nicht die großen zivilisatorischen Leistungen des Kapitalismus. Sie hat Recht, wenn sie schreibt: „Der moderne Kapitalismus ist keine Variante der Physik, sondern eher zufällig entstanden. Er ist eine Kulturleistung des Menschen und wahrscheinlich seine erstaunlichste Erfindung. Denn der Kapitalismus ist das erste dynamische System, das der Mensch erschaffen hat. Seitdem das Wirtschaftswachstum in der Welt ist, ist es nicht mehr zu bremsen. Zwar kommt es regelmäßig zu Krisen, aber die technologische Entwicklung geht unaufhaltsam weiter…“ (S. 10). Und: „Es gehört zu den Wundern des Kapitalismus, dass er sich durchgesetzt hat, obwohl die meisten Kapitalisten nicht verstehen, wie er funktioniert.“ (S. 11) Zu Recht kritisiert sie auch die moderne ökonomische Wissenschaft, die mit ihren mathematischen Modellen in Wahrheit wenig Verständnis für die Funktionsweise des Kapitalismus zeige (S. 11).
Kritik:
- Dass der Wettbewerb heute weitgehend ausgeschaltet sei, stimmt nicht. Auch wenn Autokonzerne auf manchen technischen Ebenen kooperieren, stehen sie in heftiger Konkurrenz: Mercedes gegen BMW, beide gegen japanische oder koreanische Autos usw. Es entstehen auch ständig neue Unternehmen. Schaut man die Liste der Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung der Welt an, dann wird dies deutlich: Von den sieben Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung der Welt gab es Anfang der 70er-Jahre nur zwei, nämlich Johnson & Johnson sowie JP Morgan. Microsoft und Apple wurden 1975/1976 gegründet und Amazon, Alphabet (Google) und Tencent entstanden erst Mitte bzw. Ende der 90er Jahre. Unternehmen wie Amazon oder Alibaba stehen in heftigem Wettbewerb mit dem traditionellen Einzelhandel – die Konkurrenz ist nicht aufgehoben, sondern so scharf wie noch nie. In Deutschland stehen Discounter wie Lidl oder Aldi gegeneinander im Wettbewerb und mit traditionellen Einzelhändlern usw. Die These von der Ausschaltung des Wettbewerbs durch den Monopolkapitalismus ist uralt – sie wurde schon von Lenin in seiner Schrift über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ vertreten. Die meisten Unternehmen, die er damals als Beispiel für Monopole anführte, gibt es heute gar nicht mehr. Die Autorin verkennt, dass die Konkurrenz zunehmend auf einer weltweiten Ebene stattfindet: Da verschwinden traditionsreiche Konzerne wie AEG in Deutschland, dafür gewinnen japanische oder koreanische Unternehmen Marktanteile.
- Das Bild, dass Konkurrenz nur noch zwischen kleinen Friseurgeschäften oder kleinen Läden stattfinde, ist falsch. Warum ist Airberlin gerade pleite gegangen, warum steigen Billiganbieter wie Ryanair oder easyJet (in den 80er bzw. 90er Jahren gegründet) auf und gewinnen Marktanteile? Weil es hier einen Markt mit heftiger Konkurrenz gibt. Auch eine der größten Branchen in Deutschland, die Bau- und Immobilienbranche ist in zahlreiche mittelständische Unternehmen zersplittert – Projektentwickler und Bauträger, die oft nur 50 oder 100 Mitarbeiter haben und in heftigem Wettbewerb stehen, bei dem immer wieder eine Auslese stattfindet, weil viele auf der Strecke bleiben.
- Viele Erscheinungen, die die Autorin beschreibt, sind zutreffend, so etwa Subventionen für die Landwirtschaft und andere Branchen, „Bankenrettung“ etc. Aber dies sind gerade keine Wesensmerkmale des Kapitalismus, sondern dies ist eine Verletzung des Kapitalismus, die von seinen Anhängern (z.B. von Ökonomen in der Tradition von Mises, Hayek, Friedman usw.) heftig kritisiert werden. Gleiches trifft für die starke Rolle der Zentralbanken zu.
- Dass ein Unternehmenschef wie seinerzeit Ackermann von der Deutschen Bank bestimmte Gewinnziele propagiert, ist natürlich kein Beleg dafür, dass die Gewinne tatsächlich planbar seien und wir daher nicht in einer Markt- sondern in einer Planwirtschaft leben. Gewinnziele kann jeder ausgeben, aber ob sie auch erreicht werden, ist eine ganz andere Frage. Die Deutsche Bank ist dafür ja gerade ein gutes Beispiel.
- Es verwundert, dass Herrmann einerseits am Kapitalismus kritisiert, dass er nur scheinbar eine Marktwirtschaft sei, also dass es zu wenig Konkurrenz gibt, dann jedoch für mehr Staat plädiert, obwohl doch der Staat gerade die Ausschaltung des Wettbewerbs bedeutet. Sie plädiert für die Verstaatlichung der Banken, obwohl doch gerade die staatlichen Banken in Deutschland – die Landesbanken wie die WestLB, Nord LB, HSH Nordbank – besonders schlecht funktioniert haben.