Die zentrale Frage, die die Autorin leitet ist, warum die Mittelschicht immer wieder gegen ihre eigenen Interessen stimme.
Ihre Antwort: Die Mittelschicht betrüge sich selbst, sie fühle sich subjektiv als zur Elite zugehörig (S. 11). Die Mittelschicht unterschätze, wie groß ökonomisch ihr Abstand zur Elite sei. Und sie verwende zu viel Aufmerksamkeit darauf, sich von der Unterschicht abzugrenzen (S. 12). In Sätzen wie: „Trotzdem wendet sie [die Mittelschicht] sich weiter gegen die Unterschicht und nicht gegen die Eliten“ (S. 13) wird implizit der Wunsch der Autorin sichtbar, die Mittelschicht solle sich gegen die Eliten wenden. Und weil die Mittelschicht nicht das tut, was nach Meinung von Herrmann in deren ureigenem Interesse ist, versucht sie, Erklärungen dafür anzubieten. Denn eigentlich, so meint sie, liege es „im eigenen Interesse der Mittelschicht, sich mit den Armen zu verbünden“ (S. 13). Ihre zentrale These ist, „dass die Mittelschicht ihre wahren ökonomischen Interessen verkennt, weil sie sich als Elite inszenieren will“ (S. 174). Deutschland sei zwar „objektiv eine Klassengesellschaft“, aber in der subjektiven Wahrnehmung sei sie eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“. In Umfragen verorten sich nur neun Prozent in der Oberschicht und nur drei Prozent in der Unterschicht (S. 20).
Zu Recht kritisiert sie, dass die Wissenschaft sich kaum mit den Reichen beschäftigt hat und es kaum Daten dazu gibt. Dies gelte beispielsweise für den Armuts- und Reichtumsbericht, in dem man nur wenig über die Reichen finde (S. 31). Auch die gravierenden methodischen Mängel der zahlreichen „Wealth Reports“ von Banken und anderen Vermögensverwaltern kritisiert sie zu Recht (S.26 ff.) Dass es „politisch gewollt“ sei, dass die Menschen nur „wenig über die Reichen erfahren“, halte ich dagegen für eine fragliche Interpretation.
Herrmann beklagt die große Vermögensungleichheit und zitiert die Arbeiten des Eliteforschers Michael Hartmann, der zu belegen versucht, dass die Eliten unter sich blieben und es kaum Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg gebe (S. 43 ff.). Sie kritisiert, dass viele Menschen der Meinung sind, es seien auch die „Fähigkeiten“, die mit Reichtum belohnt würden (S. 48). Und sie kritisiert, dass Reichtum „keineswegs grundlegend in Frage gestellt“ werde (S. 49). Sie betont, dass es nicht vor allem die Fähigkeiten seien, die wichtig sind, um in Spitzenpositionen aufzusteigen, sondern die Kontakte (S.49), wobei sie offenbar davon ausgeht, dass diese Kontakte nicht selbst geschaffen sind, sondern überwiegend ein Ergebnis familiärer Beziehungen.
Herrmann kennt die Zahlen, wonach die untere Hälfte der Bevölkerung fast gar keine Einkommensteuer zahlt, während die obersten 20 Prozent im Jahr 2004 fast drei Viertel der Einkommensteuer zahlten. „2005 zahlte das reichste Prozent der Steuerpflichtigen bereits 22,7 Prozent aller Einkommensteuern.“ (S. 163). Dies sei natürlich kein Grund zum „Mitleid“, denn dies zeige nur, wie begütert die obersten Schichten seien.
Sie argumentiert, dass es für Multimillionäre zahlreiche Freibeträge, Abzugsbeträge und andere Vergünstigen gebe, die sie steuersparend nutzen könnten (S. 76). Die Reichen würden weniger stark belastet als die Mittelschicht, weil bei der Mittelschicht vor allem die Sozialausgaben zu der hohen Gesamtbelastung führten. Die Autorin weist darauf hin, dass der Spitzensteuersatz nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 53 und 56 Prozent gelegen habe, aber heute bei 42 Prozent liege. Und sie kritisiert, dass die Abgeltungssteuer bei nur 25 Prozent liege (S. 164).
Die Illusionen der Mittelschicht über den sozialen Aufstieg stammten aus der Nachkriegszeit, wo dies tatsächlich möglich gewesen sei. Inzwischen fielen jedoch die Reallöhne (S. 86). Sozialpsychologisch bedeutsam sei, dass eine „neue Schicht der Ausgeschlossenen“ entstanden sei, also Arbeitslose (S. 88). Wer nicht zu dieser Gruppe gehöre, fühle sich bereits dazugehörig. „Es wird nicht mehr thematisiert, dass es Herrscher und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Arme und Reiche gibt“ (S. 89). „Anders ausgedrückt: Ausgerechnet die Massenarbeitslosigkeit verleitet die Beschäftigten der Mittelschicht dazu, sich mit der Elite zu identifizieren. Sie fühlen sich bereits herausgehoben, nur weil sie nicht zu den Ausgestoßenen zählen.“ (S. 90).
Herrmann kritisiert auch hohe Managergehälter. Es wäre „ein Trugschluss zu glauben, dass Aktionäre wie die restliche Bevölkerung empfinden und sich über die überhöhten Gehälter empören würden. Aktionäre kalkulieren kühl. Sie wollen motivierte Manager…“ Als „angemessen“ gelte aus dieser Perspektive, „was die Aktionäre für ungemessen halten“ (S. 94). Die Autorin hält die hohen Managergehälter nicht für angemessen, denn: „Selbst in einem ganzen Leben kann ein Buchhalter nicht erwirtschaften, was ein Topmanager in einem Jahr erhält“ (S. 93). Die Kritik der Autorin geht jedoch über die Empörung über die Managergehälter hinaus: „Die Wut konzentriert sich auf die Manager, aber die eigentlichen Firmenbesitzer bleiben ausgespart: Über die Gewinne der Kapitaleigner wird nicht diskutiert, die Erträge der Vermögenden sind tabu.“ (S.97) Und: „Insofern ist die Kritik an ihren Gehältern durchaus berechtigt. Trotzdem wird im Zorn auf die Manager eine seltsam blinde Form des Klassenkampfes aufgeführt. Die Klasse der Kapitaleigner wird ignoriert, stattdessen geht die Klasse der abhängig Beschäftigten aufeinander los.“ (S.97).
Die Autorin zeigt einerseits, dass die verbreitete Angst vor Akademikerarbeitslosigkeit objektiv unbegründet ist und belegt, dass die Ängste der Mittelschicht vor dem Abstieg über lange Zeit wenig Fundierung in den tatsächlichen Zahlen hatte (S. 120) Inzwischen, so meint sie, sei aus der früher unbegründeten Sorge eine begründete Sorge geworden, denn tatsächlich schrumpfe die Mittelschicht inzwischen (S. 121).
Die Autorin beklagt Stimmungsmache gegen Hartz IV-Empfänger und schreibt: „Von den Hartz IV-Empfängern betrügt fast niemand…. Hartz IV-Empfänger wollen nicht betrügen – sondern arbeiten.“ (S. 133) Die „permanente Kriminalisierung der Armen“ geschehe nicht zufällig, sondern erfülle eine „politische Funktion“: „Es wird nahegelegt, dass nicht die Reichen die Armen ausbeuten – sondern umgekehrt die Armen die Reichen.“ (S. 134).
Schwarzarbeit sei ein völlig überschätztes Phänomen – die Autorin bezweifelt viele Zahlen, die öffentlich diskutiert werden. Deutschland sei jedoch eine „Steueroase für Reiche, doch die große Empörung bleibt aus… Doch im Alltag ist die allgegenwärtige Steuerhinterziehung der Spitzenverdiener kein Thema… Betrug von Reichen wird also toleriert – und bei den Armen erbittert bekämpft.“ (S. 145) Und: „Es sind nicht mehr die Unternehmer, die ihre Angestellten ausbeuten – stattdessen beuten angeblich die Armen die Mittelschicht aus.“ (S. 158). Diese Fehlwahrnehmung der Mittelschicht zu entlarven, ist das hauptsächliche Anliegen der Autorin.
Kritik: Durchweg durchzieht das Buch – explizit oder implizit – die Klage, dass die Mittelschicht sich nicht gegen die Eliten bzw. gegen die Kapitalbesitzer wenden und ihre „objektiven Interessen“ nicht erkennen würden. Die Autorin geht dabei unausgesprochen von einem Antagonismus der Interessen zwischen Kapitalisten und dem Rest der Bevölkerung aus, ohne zu belegen, dass es diesen Interessengegensatz wirklich gibt.
Vieles in dem Buch trifft aus heutiger Sicht nicht mehr zu, z.B.:
- „Doch stattdessen werden die Einkommensteuern fortwährend gesenkt.“ (S.116). Die Autorin kritisiert mehrfach die „permanenten Steuersenkungen“ in Deutschland (S. 166). Die letzte Senkung war jedoch unter Gerhard Schröder und liegt nun bald 20 Jahre zurück. Seitdem wurden die Steuern für Besserverdienende nicht gesenkt, sondern durch Einführung der Reichensteuer von 45% im Jahr 2008 sogar erhöht.
- Der beliebte Hinweis auf die höhere Einkommensteuer zu Zeiten Helmut Kohls, der sich auch in diesem Buch findet, überzeugt nicht. Damals dominierten Steuersparmodelle, die alle durch die Schröder-Regierung abgeschafft wurden (§ 2b EStG, § 2 Abs. 3 EStG). Kaum ein Spitzenverdiener zahlte damals die nominal hohen Steuern. Aufgrund der kalten Progression unterliegen zudem heute viel mehr Menschen dem Spitzensteuersatz als damals.
- 2010 prognostizierte Herrmann: „Doch dürfte die Zahl der Erwerbslosen noch kräftig steigen.“ (S. 121) Das Gegenteil ist inzwischen eingetreten. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie sie seit der Wiedervereinigung nie war.
- „Denn die Reallöhne sinken seit Jahren und sie fallen nicht nur in Krisen, sondern auch im Boom gibt es keine Lohnsteigerungen mehr.“ (S. 123) Tatsächlich sind die Reallöhne in den letzten Jahren deutlich gestiegen.
- Das „Lohndumping“ sei der Grund dafür, „dass das Wachstum in Deutschland inzwischen weit geringer als in den meisten anderen EU-Ländern ausfällt.“ (S. 126) Tatsächlich ist Deutschland inzwischen wieder eines der EU-Länder mit dem höchsten Wachstum.
- „Die Ausländer machen nur 19,3 Prozent der Hartz-IV-Empfänger aus.“ (S.156) Der Zahl der Ausländer und Personen mit Migrationshintergrund an den Hartz-IV-Empfängern liegt heute über 50 Prozent.