Wem inhaltlose und gedankenlos ständig wiederholte Politiker- und Medienphrasen auf die Nerven gehen, dem wird dieses Buch viel Freude bereiten. Der Autor, Leiter des Kulturressorts bei der Zeitschrift „Cicero“, hat auf 200 Seiten 15 dieser Phrasen auseinandergenommen. Bei denkfaulen Menschen erzeugen die ständig wiederholten Phrasen ein „tausendfach erprobtes Kopfnicken“: „Ja, so ist es. So ist es wirklich. Es kann nicht anders sein.“ (S. 71) „Die Phrase beginnt“, so Kissler, „ wo das Denken endet. Sie erweckt den Eindruck, sie sei bereits das Ergebnis eines langen Nachsinnens und also müsse an der Stelle, an der sie aufgerufen wird, nicht mehr gedacht, sondern nur noch verkündet werden. Sie will Einverständnis, nicht Eigensinn. Akklamation, nicht Reflexion.“ (S. 171)
„Unser Reichtum ist die Armut der Anderen“
Meine Lieblingsphrase in diesem Buch. Klassisch hat Bertolt Brecht sie in diesem Gedicht formuliert:
„Reicher Mann und armer Mann
standen da und sah’n sich an,
und der Arme sagt bleich:
Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“
Von allen Gedichten, die ich kenne, ist dies das mit Abstand dümmste, aber was darin ausgedrückt wird, entspricht der Überzeugung vieler Menschen – nämlich der Nullsummenglaube. Kissler kritisiert, Brecht lasse den Ursprung des Reichtums, der sich angeblich einer fremden Armut verdanken solle, außer Acht: „Ein Mann hat Geld geerbt, das seine Eltern durch sparsames Haushalten beiseite gelegt haben, ihr Leben lang: Dieser Vermögenszuwachs beim Sohn soll Resultat sein der Ausbeutung eines Armen? So kann es Brecht nicht gemeint haben. Ein Mann hat eine pfiffige Idee, meldet ein Patent an, gründet eine Firma, schafft Arbeitsplätze für Hunderte: Auf wessen Kosten soll dieser Reichtum entstanden sein? So kann es Brecht nicht gemeint haben. Eine junge Frau überspringt mehrere Klassen, macht den Universitätsabschluss in Rekordzeit und wird zur weltweit gefragten Expertin für Künstliche Intelligenz: Welchem Armen hat sie bei ihrem Aufstieg Geld weggenommen? Und welche Armen wurden von den millionenschweren Rockstars Mick Jagger, Bono, Lady Gaga bestohlen?“ (S. 115 f.) Der Spruch „Unser Reichtum ist die Armut der Anderen“ geht davon aus, Reichtum sei prinzipiell Diebstahl. Übrigens, so möchte ich hinzufügen: Gerade durch die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte ist dieser Spruch widerlegt: In China betrug die Quote von Menschen, die in extremer Armut leben, 1981 noch 88 Prozent, heute sind es ein Prozent. Gleichzeitig entstehen so viele Milliardäre und Multimillionäre wie nirgendwo sonst auf der Welt. Wäre der Satz richtig, dass Reichtum nur dadurch entsteht, dass andere arm werden, wäre das nicht erklärbar. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt.
„Jeder verdient Respekt“
Kissler hat dieses vierte Kapitel geschrieben, bevor die „Respektrente“ erfunden wurde. Man sieht, dass er ein feines Gespür hat für Phrasen, die im Trend liegen. Denn schon vor der „Respektrente“ wurde – wie er an allerlei absurden Beispielen nachweist – für alles und jeden Respekt gefordert. Ich habe dabei nachgedacht: Wann habe ich jemals „Respekt“ für meine Person gefordert? Noch nie im Leben. Ich habe diese Forderung aber sehr oft von Leuten vernommen, die guten Grund hatten zu zweifeln, dass man sie respektiert – vielleicht in manchen Fällen gerade deshalb, weil sie in der Tat keinen Respekt verdienen (z.B. ein arroganter Türsteher, der einem den Einlass in den Club verwehrt und der vielleicht einen Respekt-Komplex hat). Respekt, so Kissler, meint heute „Applaus ohne Ansehung der Leistung. Respekt ohne achtenswerte Gründe“ (S. 63). Wie bei einem Taschenspielertrick werden die Begriffe Respekt und Würde vertauscht. „Nicht jeder verdient Respekt. Applauswürdig ist nicht alles.“ (S. 67). Durch die Inflationierung wird der Begriff sinnlos. Würde steht jedem Menschen zu, egal was er tut, einfach weil er ist. Respekt hingegen kann man verspielen, etwa durch schlimme Taten und böse Absichten (S. 69 f.).
„Vielfalt ist unsere Stärke“
Wer wollte gegen Vielfalt votieren und sich damit selbst als einfältig outen? Dass es neben einem Zuwenig auch ein Zuviel an Vielfalt geben kann (S.27), wird schlicht geleugnet. Kissler dringt ein bis in die letzten Windungen des linken Diversity-Diskurses, wenn er etwa diesen Satz zitiert und seziert: „Tatsächlich wird der Begriff weiß in der internationalen Rassismusdebatte als Gegensatz zu People of Color (PoC) verwendet und nicht für die Beschreibung der Hautfarbe genutzt. Der Begriff soll eine gesellschaftspolitische (Macht-)Position und Norm hervorheben. Dabei müssen sich weiße Menschen nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen.“ (S.29). Kissler fragt, ob es somit nichtweiße Weiße gibt, die mächtig sind, als wären sie weiß und deshalb weiß genannt werden dürfen? „Und was geschieht mit weißen Weißen, die, obwohl nicht weiß, ohnmächtig und prekär leben, also eher nicht-weiße Erfahrungen machen, aber dennoch als privilegiert angesehen werden sollen? Handelt es sich bei ihnen nicht schon um weiße People of Color?“ (S. 30 f.)
Eine Initiative „Charta der Vielfalt“ mit Angela Merkel als Schirmherrin wirbt unter dem Slogan „Für Diversity in der Arbeitswelt“. Dafür halten acht Menschen bedruckte Tafeln in die Kamera, auf denen zu lesen steht: „Wir zeigen Flagge für Vielfalt!“ Der Clou: „Bei den acht Menschen handelt es sich um sieben Frauen und einen Mann. Vielfalt besteht hier darin, dass sich Frauen eine Sache zu eigen machen, in welcher ein einzelner Mann toleriert wird. Oder interessiert ‚Vielfalt’ Männer nicht? Auf jeden Fall dachte man sich Vielfalt etwas vielfältiger.“ (S. 27) Die Forderung nach Vielfalt wird oft so aggressiv vorgetragen, dass sie keine Gegenworte duldet und jeden unter Rassismus-Verdacht stellt, der darauf hinweist, was Kissler zu bedenken gibt: „Zum Spektrum der Vielfalt gehört aber auch die Freiheit, sie abzulehnen, oder sie zu begrenzen zu wünschen. Wo Vielfalt als Prinzip unumschränkt herrschen soll, ist sie Dogma. Da engt sie ein und weitet nicht das Blickfeld.“ (S. 33 f.) Nur scheinbar paradox, aber in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahr tatsächlich zu beobachten, ist Kisslers Befund, dass diversitätskritische Menschen durch eine stark diversitätsfreundliche Politik an Zahl zunehmen können (S.37).
„Solidarität“
Solidarität war ursprünglich eine Parole der Arbeiterbewegung. Arbeiter sollten solidarisch sein gegen die Unternehmer. Das war ein freiwilliger Akt und ergab einen Sinn. Heute ist der Begriff im linken Diskurs geblieben, aber er meint etwas ganz anderes. Alle sollen mit allen solidarisch sein. Der Reiche, den man mit noch höheren Steuer belegt, soll das gut finden, weil es Ausdruck der Solidarität mit denen ist, die weniger Steuern zahlen. Solidarität ist nicht mehr freiwilliges solidarisches Handeln (so wie ursprünglich), sondern Zwang. Aber: „Kann verordnete Solidarität solidarisch sein? Im Bemühen, ein als solidarisch deklariertes Projekt für verbindlich zu erklären, ging das entscheidende Element der Solidarität über Bord, die freie Gemeinschaftlichkeit.“ (S. 112 f.)
„Ängste“ (meist im Plural)
Der Gutmensch attestiert Kritikern einer grenzenlosen Willkommenskultur Angst (kommt meist im Plural vor: „Ängste“, weil das so schön diffus klingt). Pädagogische Hinweis lauten, dass „Angst ein schlechter Ratgeber“ sei und „Angst hat man vor dem, was man nicht kennt“. Diejenigen, die anderen ihre – stets angeblich irrationalen und unbegründeten – „Ängste“ mit solchen Beschwörungsformeln ausreden wollen, sind jedoch selbst die Angstpioniere, nämlich die Grünen: „Das ‚Waldsterben’ und der ‚saure Regen’ beziehungsweise die Ängste vor beiden pflasterten ihren Weg zum Erfolg. Die Angst vor einer Atomkatastrophe, irrational angefacht, führte zur Hauruck-Energiewende, die Angst vor Glyphosat und dem amerikanischen Chlorhuhn als dem Symboltier für das Freihandelsabkommen TTIP trieb Massen auf die Straßen. Jeder heiße Sommer wird zum ultimativen Beweis der nahenden ‚Klimakatastrophe’…“ Der ökologische Pessimismus brauche den Daueralarm, brauche grüne Angst. (S. 150). Und diese Angstprediger reden denen, die vor anderen gesellschaftlichen Entwicklungen „Ängste“ haben, ein, sie seien komplett irrational und im Grunde könnten ihre „Ängste“ nur psychologisch erklärt und therapiert werden.
Merkels Nonsens-Aussagen auseinandergenommen
Im 3. Kapitel („Wir schaffen das“) nimmt der Autor die zahlreichen Nonsens-Aussagen von Angela Merkel gekonnt auseinander. Mit Sicherheit hat es keinen Bundeskanzler in der Bundesrepublik Deutschland gegeben, der so viel Unlogisches und Absurdes formuliert hat. Dies geschieht jedoch in einer harmlosen Form, so dass man es oft erst merkt, wenn man – wie Kissler es tut – die einzelnen Sätze akribisch seziert. Zum islamistischen Terror etwa bemerkte Merkel: „Das Problem werden wir nicht dadurch lösen, dass wir so tun, als wenn’s nicht existiert, sondern man muss es sozusagen in seiner vollen Dramatik auch darstellen und auf sich zukommen lassen, um die richtigen Maßnahmen treffen zu können.“ (S. 54) Kissler: Ein größerer Widerspruch zwischen „Dramatik“ und „auf sich zukommen lassen“, ist kaum denkbar. „Der Scheinwiderspruch, es wäre auch nur irgend jemand bereit, das Terrorproblem zu leugnen, ‚als wenn’s nicht existiert’, mündet in eine paradoxe Scheinauflösung. Was niemand behauptet hat, soll dadurch entkräftet werden, dass man: nichts tut. Dass man zumindest alle Aktivität auf das „Darstellen“ beschränkt… Nur wer den Terror auf sich zukommen lässt, der könne ‚die richtigen Maßnahmen treffen.“ (S. 54 f.) Das alles ist offenbar komplett sinnfrei. Aneinandergereihte Worte, ohne ein Mindestmaß an Logik. Das trifft auch für Sätze wie diese zu: „Für die Bundesregierung“, so Merkel, „kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen werden und da, wo immer das notwendig ist, auch tun.“ (S.58) Ein Freudscher Versprecher?
Fazit: Ich wünsche dem Buch noch viele Auflagen. In einer Neuauflage würde ich mir noch einige Zusatzkapitel wünschen, zum Beispiel über den „Zusammenhalt der Gesellschaft“ – eine Phrase, die vor allem zur Begründung für Neidparolen gegen den „besserverdienenden“ Teil der Gesellschaft bzw. gegen die Reichen vorgebracht wird. Mehr Zusammenhalt durch mehr Reichenhatz? Eine andere Lieblingsphrase von mir ist, wir müssten „Fluchtursachen beseitigen“. Jeder nickt: „Jawohl, so ist es. Wird gemacht. Muss gemacht werden.“ Ob das überhaupt in unserer Macht steht oder ob das genau so realistisch ist wie die Forderung, man müsse die Schwerkraft beseitigen, da diese ja Ursache von Flugzeugabstürzen sei, wird nicht gefragt.