Im Jahr 1820 lebten 94 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, im Jahr 1910 waren es noch 82 Prozent und 1950 war die Quote auf 72 Prozent gesunken. Doch der größte und schnellste Rückgang erfolgte in den Jahren 1981 (44,3 Prozent) bis 2015 (9,6 Prozent) (S.89 f.).
Wenn man diese Zahlen liest, reibt man sich die Augen. Denn genau dieser Zeitraum war nach Ansicht linker Antikapitalisten besonders schlimm: Thomas Piketty, der linke französische Ökonom, kritisiert, dass in den letzten Jahrzehnten die Schere zwischen Arm und Reich besonders stark auseinander gegangen, die soziale Ungleichheit besonders stark gestiegen sei.
Vor 200 Jahren, als der Kapitalismus entstand, lebten weltweit nur etwa 60 Millionen Menschen nicht in extremer Armut. Heute leben mehr als 6,5 Milliarden Menschen nicht in extremer Armut. Allein in den Jahren 1990 bis 2015 (aus Sicht von Thomas Piketty die verheerenden Jahre, in denen die soziale Ungleichheit so stark gestiegen ist) entkamen weltweit 1,25 Milliarden Menschen extremer Armut – 50 Millionen pro Jahr und 138.000 jeden Tag (S. 91).
Dies ist ein Buch vollgestopft mit solchen Fakten. Und doch liest es sich nicht langweilig, sondern spannend wie ein Roman, weil der Autor immer wieder anschauliche Schilderungen aus dem Lebensalltag der Menschen einstreut, die zeigen, dass es eben ein Märchen ist, wenn behauptet wird, früher sei alles besser gewesen.
Verklärung der „guten alten Zeit“
Johan Norberg war früher selbst ein linker Antikapitalist. In seinem Buch bekennt er, er habe damals nie darüber nachgedacht, wie die Leute wohl vor der industriellen Revolution gelebt hatten, als es noch keine Medizin und Antibiotika, kein sauberes Wasser, nicht genügend Essen, keine Elektrizität oder sanitären Einrichtungen gab. „Ich stellte mir diese Epoche der Menschheit im Grunde genommen vor wie einen Ausflug aufs Land.“ (S. 20) Die Wirklichkeit früher war jedoch ganz anders. Der französische Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel, so berichtet Norberg, habe herausgefunden, dass vor dem 18. Jahrhundert die Eigentumsverzeichnisse normaler Europäer nach ihrem Tod darauf hinwiesen, dass es „beinahe überall nur Armut gab“. So würde zum Beispiel der gesamte Besitz einer älteren Person, die ihr Arbeitsleben hinter sich hat, ungefähr so aussehen: „Ein paar alte Kleidungsstücke, ein Stuhl, ein Tisch, eine Bank, die Bretter des Betts, ein Sack gefüllt mit Stroh. Offizielle Berichte aus dem Burgund des 16. bis 18. Jahrhunderts sind voll von Hinweisen auf Menschen, die auf Stroh schlafen, ohne Bett oder andere Möbelstücke, die von den Schweinen nur durch etwas Leinen getrennt wurden.“ (S.77). Im frühen 19. Jahrhundert waren die Armutsraten selbst in den damals reichsten Ländern höher, als sie es heute in den armen Ländern sind. In den USA, Großbritannien und Frankreich lebten 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung in Zuständen, die wir heute als extreme Armut bezeichnen. Heute sind solche Zahlen nur noch in der Subsahara-Afrika vorzufinden. In Skandinavien, Österreich-Ungarn, Deutschland und Spanien lebten ungefähr 60 bis 70 Prozent in extremer Armut. Und zwischen 10 und 20 Prozent der europäischen und amerikanischen Bevölkerung wurden offiziell als Bettler und Vagabunden bezeichnet (S. 78 f.)
Man schätzt, dass vor 200 Jahren ungefähr 20 Prozent der Einwohner von England und Frankreich überhaupt nicht arbeitsfähig waren. Sie hatten höchstens genug Kraft, um jeden Tag ein paar Stunden langsam zu gehen, wodurch sie Zeit ihres Lebens zum Betteln verurteilt waren (S.30). Karl Marx sah die Verelendung des Proletariats voraus, doch als er im Jahr 1883 starb, war der durchschnittliche Engländer dreimal reicher als im Jahr 1818, in dem er geboren wurde (S. 81).
Lebenserwartung
Der Fortschritt zeigt sich in der Lebenserwartung besonders deutlich. Die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt hat sich im vergangenen Jahrhundert mehr als doppelt so stark erhöht wie in den 200.000 Jahren zuvor. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, das heute geboren wird, sein Rentenalter erlebt, ist höher als die Wahrscheinlichkeit unserer Vorfahren, ihren fünften Geburtstag zu feiern (S. 21). Im Jahr 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit bei 31 Jahren, heute sind es 71 Jahre. Von den ungefähr 8000 Generationen des Homo sapiens seit dessen Entstehung vor etwa 200.000 Jahren haben nur die letzten vier zu einer Zeit gelebt, in der die Sterblichkeit massiv zurückgegangen ist. (S. 61).
Hunger
In den letzten 140 Jahren gab es 106 große Hungersnöte, die jeweils mehr als 100.000 Menschen das Leben kosteten. Besonders hoch waren die Todeszahlen in sozialistischen Ländern wie der Sowjetunion, China, Kambodscha, Äthiopien und Nordkorea, die Abermillionen Menschen durch die zwangsweise Überführung privater Produktionsmittel in Gemeinwirtschaften und den Gebrauch von Hunger als Waffe töteten (S.42). Allein beim größten sozialistischen Experiment der Geschichte, Maos „Großem Sprung nach vorne“ Ende der 50er Jahre, starben mehr als 40 Millionen Chinesen.
Die jährliche Zahl der Todesopfer durch große Hungersnöte ist in den 1990er-Jahren auf 1,4 Millionen gefallen – nicht zuletzt hat der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme weltweit und Chinas Weg zum Kapitalismus dazu beigetragen. Im 21. Jahrhundert starben bisher etwa 600.000 Menschen an Hunger. Das sind gerade einmal etwa zwei Prozent im Vergleich zu den Todesopfern zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und das, obwohl die Weltbevölkerung heute viermal größer ist als damals (S. 43).
Noch 1947 stellten die Vereinten Nationen fest, dass rund die Hälfte der Weltbevölkerung chronisch unterernährt sei (S.37). 1971 war der Prozentsatz auf 29 Prozent gesunken, zehn Jahre später waren es nur noch 19 Prozent und 2016 war der Anteil der Menschen, die weltweit unter Unterernährung leiden auf 11 Prozent gesunken (S. 39).
Apokalyptiker behielten stets unrecht
Was wir aus der Geschichte auch lernen können: Apokalyptiker behielten in der Vergangenheit stets unrecht. 1968 erschien ein viel beachtetes Buch mit dem Titel „The Population Bomb“. Darin hieß es, in den 1970er Jahren werde die Welt durch zahlreiche Hungersnöte geplagt werden, Hunderte Millionen von Menschen würden zu Tode hungern. Ein anderes Buch mit dem Titel „Famine 1975!“ prophezeite, dass in 15 Jahren die Hungersnöte ein katastrophales Ausmaß erreichen würden (S. 35). Während von Gegnern des Kapitalismus die Vergangenheit oft verklärt wird, erscheint die Zukunft bei ihnen stets in düstersten Farben. Im Jahr 1972 warnte der sehr einflussreiche „Club of Rome“ beispielsweise, praktisch jeder Schadstoff, der über einen bestimmten Zeitraum gemessen worden sei, scheine inzwischen expotentiell anzusteigen. Tatsächlich jedoch sollte in den folgenden Jahrzehnten die Verschmutzung nicht nur aufhören zu wachsen, sondern sogar zurückgehen, und zwar drastisch. Die Gesamtemissionen der sechs führenden Luftverschmutzer der Welt verringerten sich zwischen 1980 und 2014 um mehr als zwei Drittel (S. 124).
Umwelt
In einem ausführlichen Kapitel zum Thema Umwelt zeigt Norberg, wie stark sich die Umweltbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten verbesserten. Das Thema Klimawandel leugnet er nicht, verweist aber darauf, dass in den vergangenen 150 Jahren der Energieaufwand, der notwendig ist, um in der westlichen Welt eine Wohlstandseinheit zu produzieren, um 1 Prozent pro Jahr zurückgegangen sei (S.137). Es gebe Mittel und Wege, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, ohne damit das Wachstum, den Handel und den Zugang zu Energie zu mindern. Dazu gehörten effizientere Produktionsprozesse, weniger energieintensive Arten des Bauens sowie neue Energiequellen und Antriebsstoffe (S.137). Und inzwischen arbeiteten Wissenschaftler und Firmen an Kernkraftwerken der vierten Generation. Sie haben alle passive Sicherheitssysteme, können aus derselben Ressource hundertmal mehr Energie ziehen und haben nicht dieselben Abfallprobleme. Schnelle Brüter können den Abfall auch mitverbrennen (S.138). In der Vergangenheit sei immer wieder die Innovationskraft der Menschen unterschätzt worden, um Probleme zu lösen – aber eine Abkehr von Fortschritt und Wachstum werde, so warnt Norberg, zum Gegenteil dessen führen, was sich die Umwelt- und Klimaschützer erhofften.
Umverteilung?
Norberg nennt eine endlos erscheinende Fülle von Fakten, die die Wohltaten des Fortschritts belegen. Die wöchentliche Arbeitszeit eines Amerikaners ist seit 1860 um 25 Stunden reduziert worden. Dazu kommt, dass wir auch erst später im Leben anfangen zu arbeiten, früher in den Ruhestand gehen und nach dem Ruhestandseintritt länger leben (S. 81). Die Ursache für all diese positiven Entwicklungen waren der technische Fortschritt und ein Wirtschaftssystem, das diesen Fortschritt ermöglichte. Eine Untersuchung von 180 Ländern über vier Jahrzehnte hinweg zeigt, dass beinahe jeder Einkommenszuwachs für die Ärmsten einer Gesellschaft auf die durchschnittliche Wachstumsrate eines Landes folgte und nicht so sehr durch Umverteilung zustande gekommen ist. 77 Prozent der positiven Veränderungen im Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung sind durch das durchschnittliche Wachstum eines Landes verursacht (S. 92).
Frank Schäffler, dessen Prometheus-Institut dieses Buch dankenswerterweise ins Deutsche übersetzt und herausgegeben hat, schreibt in seinem Vorwort: „Der Irrtum der Globalisierungskritiker besteht darin, dass sie Wachstum nur quantitativ betrachten und nicht qualitativ. Wachstum verändert sich aber mit steigendem Wohlstand, weil sich die Präferenzen der Menschen mit zunehmender Lebensqualität verändern… Die technische Entwicklung von Filtern, Reinigern, effizienteren Anlagen und Motoren ist nur mit Wachstum und Wohlstand möglich. Und hinzu kommt: Nur der Kapitalismus kann dies auch finanzieren. Dem Sozialismus geht dabei immer das Kapital aus. Daher gilt: Verzicht, staatliche Verhaltenslenkung der Bürger oder das Zurückdrehen der Globalisierung schaffen nicht weniger Armut, nicht weniger Hunger und Elend, sondern mehr“ (S. 16 f.).
Dieses Buch sollte Pflichtlektüre in jeder Schule sein. Es erinnert mich in mancher Hinsicht an die Bücher von Steven Pinker („Aufklärung jetzt!“) und von Hans Rosling („Fastfulness“). Schade ist, dass der Verlag einen für meinen Geschmack wenig attraktiven Umschlag und Buchtitel gewählt hat. Dadurch sollte sich der Leser jedoch nicht beirren lassen. Es ist ein großartiges Buch von einem großartigen Autor, dessen andere Bücher (z.B. „Das kapitalistische Manifest“) ich ebenfalls mit großem Gewinn gelesen habe.