Jürgen W. Falter, Hitlers Parteigenossen. Die Mitglieder der NSDAP 1919-1945, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2020, 584 Seiten.
Der Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter ist international als der führende Forscher über die Wähler der NSDAP bekannt. Eines der Ergebnisse seines Standardwerkes über „Hitlers Wähler“ war, dass Arbeiter in der Wählerschaft der NSDAP eine weitaus größere Rolle spielten, als bisher in der geschichtswissenschaftlichen Forschung angenommen. Mit modernen Methoden konnte er umfangreiche Datenbestände über die Wähler der NSDAP analysieren – dies wäre früher, ohne Zuhilfenahme von Computern, gar nicht möglich gewesen.
Nach sieben Jahren Forschungsarbeit legt er jetzt nach und legt ein weiteres Werk vor, das mit Sicherheit ebenfalls das Standardwerk zum Thema wird: Diesmal geht es nicht um die Wähler, sondern um die Mitglieder der NSDAP. Am 30. Januar 1933, dem Tag, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, hatte die NSDAP 900.000 Mitglieder, am Ende des Dritten Reiches waren es fast neun Millionen. Bezogen auf die Zahl der Wahlberechtigten war am Kriegsende ungefähr jeder Siebte „Parteigenosse“.
Die Gründe, warum Menschen der NSDAP beitraten, waren sehr unterschiedlich. Nach dem 30. Januar spielten Opportunismus und Karrieregesichtspunkte eine große Rolle. Allein zwischen dem 30. Januar 1933 und Ende April des gleichen Jahres traten 1,75 Millionen Mitglieder der Partei bei. Dann wurde sie erst einmal für Neuaufnahmen geschlossen.
Immer wieder Aufnahmestopps
Falter zeigt, „dass die NSDAP in den 20 Jahren ihrer Existenz nach der Neugründung 1925 nur während gut der Hälfte der Zeit für die Allgemeinheit offenstand“. Immer wieder gab es Aufnahmestopps. Was war der Grund? Hitler hatte schon in „Mein Kampf“ und seinen frühen Reden eine Theorie der „historischen Minorität“ entwickelt, die Falter im ersten Kapitel seines Werkes ausführlich darlegt. Er stützt sich dabei auf die Darstellung in meinem Buch „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“. Hitlers Theorie besagte: Nur historische Minoritäten machen Geschichte. Es muss sich hier um „tapfere“ Menschen handeln, die bereit sind, persönlich und für ihre Karriere hohe Opfer zu bringen. „Auch wenn sich alles ganz anders als geplant entwickelte, sah Adolf Hitler den Nationalsozialismus immer als eine revolutionäre Bewegung an, mit deren Hilfe er die deutsche Gesellschaft und später auch ganz Europa von Grund auf umwandeln wollte. Träger jeder revolutionären Bewegung sei eine ‚historische Minorität’ der Idealisten, der Kampfbereiten und Opferwilligen, die während der Bewegungsphase ihr ganzes Denken und Tun in den Dienst der Partei stellten, ohne Rücksicht auf die eigene Person, die Familie und die Karriere.“ (S. 485) Als Vorbild nannte Hitler immer wieder die bolschewistische Partei in Russland.
Bevor eine Partei an die Macht komme und solange sie vom „System“ und ihren Gegnern scharf bekämpft werde, ziehe sie, so Hitler, automatisch nur solche „mutigen“ Menschen an. Nach der Machtergreifung jedoch, so warnte er bereits in „Mein Kampf“, würden sich verstärkt Opportunisten der Partei anschließen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bzw. ihre Karriere bedacht seien. Tatsächlich kam es genau so. „Vieles deutet darauf hin, dass die weitaus meisten der nach dem 30. Januar 1933 eingetretenen Parteigenossen dies wohl tatsächlich auf Opportunismus und/oder aufgrund äußeren Drucks taten“, so Falter (S. 486).
Das war ein Grund, warum die Partei immer wieder Aufnahmestopps verhängte, doch trotz dieser Aufnahmestopps stieg die Zahl der Mitglieder immer stärker an.
Nach dem Krieg beriefen sich viele Menschen darauf, sie seien gezwungen worden, der Partei beizutreten oder ihr Beitritt sei quasi automatisch erfolgt, weil sie Mitglied einer Organisation gewesen seien, die in die Partei integriert wurde. Solche Fälle mag es möglicherweise gegeben haben, zweifelsfrei belegt ist laut Falter jedoch bislang keiner. Es war sogar möglich, wieder aus der Partei auszutreten, und nicht wenige taten dies. Insgesamt traten in den Jahren 1925 bis 1945 760.000 Mitglieder aus der NSDAP aus, davon 250.000 vor dem Januar 1933 (S. 474 f.). Das heißt aber, dass fast eine halbe Million Mitglieder in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur aus der Partei austraten.
40 Prozent Arbeiteranteil
Die NSDAP nannte sich selbst eine sozialistische Arbeiterpartei. In der bisherigen Forschung sah man jedoch vor allem die Mittelschicht als die entscheidende soziale Stütze der Nationalsozialisten – sowohl der Mitglieder als auch der Wähler. Viele dieser soziologischen Theorien basierten auf einer sehr dünnen Quellenbasis, manche eher auf Spekulationen als auf Daten. Das ist bei Falter anders.
Bei den Daten, die er in sieben Jahren Forschungsarbeit für diese Studie ausgewertet hat, handelt es sich um die mit weitem Abstand größte und materialreichste Stichprobe aus den beiden zentralen NSDAP-Mitgliederkarteien. Die Analyse zeigt, dass insbesondere nach dem 30. Januar 1933 Angestellte und Beamte geradezu in hellen Scharen zur Partei stießen und unter den Mitgliedern der NSDAP deutlich überrepräsentiert waren (S. 479). Doch der Arbeiteranteil in der NSDAP war weitaus höher als man bisher in der Forschung angenommen hatte. Er lag, ähnlich wie bei den Wählern der Partei, bei etwa 40 Prozent (S. 187).
Die bisherige Forschung hat – oft auf schlechter Datenbasis – immer wieder versucht, den Arbeiteranteil in der Partei kleinzureden. Heinrich August Winkler meinte etwa, wenn sich Arbeiter der NSDAP angeschlossen hätten, dann seien dies eher „atypische“ Arbeiter gewesen, was Falter überzeugend widerlegt (S. 208).
Die NSDAP war, so der Autor, von ihrer schichtmäßigen Zusammensetzung her keine Klassenpartei, sondern eine „sozial ausgesprochen heterogen zusammengesetzte Partei“. Nicht überraschend ist, dass Männer in der Partei sehr viel stärker vertreten waren als Frauen, doch dies galt auch für andere Parteien der Weimarer Republik.
Eine jugendliche Partei
Die NSDAP unterschied sich von anderen Parteien vor allem durch die Jugendlichkeit ihrer Anhänger. In den frühen Jahren waren die meisten Menschen, die sich der Partei neu anschlossen unter 30 Jahren, nicht wenige sogar unter 25 Jahren (S. 124). Jung waren ihre Mitglieder meist beim Parteieintritt. „Aber mit zunehmender Dauer der Existenz der Partei wurden auch ihre Mitglieder älter. Sie alterten quasi im Gleichschritt mit der Partei, sodass das Durchschnittsalter der Parteimitglieder gegen Kriegsende bei immerhin 45 Jahren lag, was ganz und gar nicht der Vorstellung Hitlers und der NSDAP von einer revolutionären Bewegung entsprach.“ (S. 476). Deshalb wurden nach der zweiten Schließung der Partei im Jahre 1942 in der Regel neben Kriegshinterbliebenen und aus der Wehrmacht Ausgeschiedenen nur noch Abgänger bzw. Abgängerinnen der Hitler-Jugend und des BDM aufgenommen.
Motive für den Parteieintritt
Das achte Kapitel des Buches gibt zunächst einen Überblick über sämtliche Studien zur Frage des Motivs für den Beitritt zur NSDAP. Manche Studien entstanden schon in den 30er Jahren, andere erst nach dem Ende der Diktatur. Die Quellen zu diesem Thema sind – wie stets in der Forschung – einer eingehenden Kritik zu unterziehen. So zeigt Falter, dass die in den Entnazifizierungsverfahren angegebenen Motive (erwartungsgemäß) meist geschönt waren (S. 446). Das eine, alles überlagernde Motiv, Nationalsozialist zu werden, gab es nicht. Antisemitismus spielte eine Rolle, jedoch vor allem bei Anhängern der sogenannten Alten Garde, die der Partei bis Oktober 1928 beitraten. Eine Analyse, auf die Falter sich bezieht, zeigt, dass 50 Prozent der „älteren“ Generation (40 Jahre und älter), aber nur 26 Prozent der jüngeren Generation (zwischen 20 und 40 Jahren) in ihren Berichten eine Ablehnung von Juden als Motiv für den Parteieintritt nannten (S. 437). Zweifelsohne war die NSDAP eine durch und durch antisemitische Partei, aber Hitler wusste, dass er mit antisemitischen Parolen nur eine Minderheit der Wähler mobilisieren konnte. Anders als in der frühen Zeit der NSDAP Anfang der 20er Jahre spielten denn auch – wie ich in meiner eigenen Studie gezeigt habe – Ende der 20er Jahre nicht antisemitische Motive die Hauptrolle in Hitlers Reden, sondern eher soziale Versprechungen und die Ideologie der „Volksgemeinschaft“. Falter berichtet denn auch, dass der Sozialismus „in seiner NS-Variante“ unter den Anhängern der NSDAP eine gewichtige Rolle spielte: „Hand in Hand mit dem Ideal der Volksgemeinschaft ging häufig der Wunsch nach einer Abschaffung von Privilegien und des Klassensystems der Gesellschaft. Häufig finden sich auch Bezüge zur Frontgemeinschaft mit dem Ziel der Beseitigung der Klassenschranken und dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit über die Klassen hinweg. Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus im Namen und im Programm machte einen großen Teil der Attraktivität des NS aus.“ (S. 436).
Das Buch enthält für den Forscher zahlreiche Neuigkeiten, so etwa die, dass Angehörige der Kriegskindergeneration, d.h. der zwischen 1900 und 1915 Geborenen, unter den Mitgliedern der Partei weit überrepräsentiert waren – und nicht, wie häufig behauptet die zwischen 1880 und 1900 geborene Frontgeneration der Kriegsteilnehmer. Zudem wurden erstmals die sudetendeutschen NSDAP-Mitglieder untersucht – und vieles andere mehr.
Falters Buch enthält eine Fülle von Daten, und einige seiner Forschungsergebnisse werden mit Sicherheit dazu führen, dass manche einseitigen und auf unzureichender Datenbasis basierenden Thesen in Gesamtdarstellungen der NS-Zeit korrigiert werden müssen. Obwohl es ein Fachbuch ist, verzichtet der Autor erfreulicherweise auf Politologen- und Soziologen-Fachjargon, was das Buch auch für den Laien gut lesbar macht.